Die Seelenquelle
Zelt im hinteren Garten aus eine Nachbarschaftstheaterkompanie: Zwei Sommer lang beschwatzte sie Kinder innerhalb eines Umkreises von sechs Blöcken zwischen der 8th Avenue und der 15th Street dazu, eine Serie von Dramen aufzuführen, die sie schrieb, produzierte und als Regisseurin inszenierte. Für gewöhnlich drehten sich die Stücke um schöne Prinzessinnen, die entweder von Dinosauriern oder von Aliens bedroht wurden – und manchmal auch von beiden. Später stieg sie zu einer Dichterin auf, die Gedichte und Kurzgeschichten für die Schulzeitung schrieb, und gewann in der Mittelstufe einen Preis für ein Gedicht über eine melancholische Wildblume, die auf einem Parkplatz wuchs.
Trotz dieser künstlerischen Neigungen wurde sie natürlich von der Wissenschaft angezogen. Gesegnet mit der geduldigen Beharrlichkeit ihrer Mutter und dem analytischen Talent ihres Vaters, zeichnete sie sich in ihrem Grundstudium aus. Sie entschied sich, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und sich auf die Fossiliensuche zu begeben. Ihre Sommer verbrachte sie damit, bei Ausgrabungen von China bis Mexiko zu assistieren, und verdiente sich dabei ihre Sporen. Jetzt wurde sie, die junge Doktorandin, als stellvertretende Direktorin bei einer bedeutenden Ausgrabung in Arizona eingesetzt, die das Potenzial besaß, ihre Karriere zu festigen.
In letzter Zeit jedoch begann die Routine sie zu langweilen. Fossilisierte Exkremente und Schnecken aus dem Jura übten nicht mehr länger die Faszination aus wie einst. Und das unentwegte Lästern und politische Taktieren, das in den oberen Rängen der akademischen Welt vorherrschte – sie hatte dies zwar stets gewusst, aber als Teil der Universitätskultur akzeptiert –, erwies sich mehr und mehr als eine belastende Ablenkung. Je weiter sie in die dunkelsten Promotionsterritorien reiste, desto stärker schwand die Faszination an fossilisierte Überreste ausgestorbener Geschöpfe dahin; und sie spezialisierte sich rasch, obschon ihr Thema sie nicht kümmerte. Welchen Unterschied machte das, ob die Welt nun erfuhr oder nicht, was der letzte jüngst entdeckte Megasaurus vor sechzig Millionen Jahren zum Mittagessen gefressen hatte? An schlechten Tagen, die in der letzten Zeit ziemlich oft zu kommen schienen, kam ihr alles so völlig sinnlos vor.
Immer häufiger ertappte sie sich dabei, wie sie auf die farbenprächtigen Sonnenuntergänge bei Sedona blickte und sich irrationalerweise nach einer leeren Leinwand und einer Garnitur Pinsel sehnte – oder wie sie einzelne Kakteen als surrealistische Skulpturen sah oder wie sie im Stillen von den hoch aufragenden, windgeschliffenen Felsen des Canyons schwärmte. Auf eine Art und Weise, wie sie es selbst nicht ganz beschreiben konnte, hatte sie die Empfindung, dass sie zu anderen Dingen hingezogen wurde – vielleicht zu einem anderen Leben jenseits der Wissenschaft. Dennoch war sie jetzt noch nicht gewillt, das Handtuch zu werfen. Es gab einen schwankenden Berg von Arbeit, die noch zu erledigen war, und sie befand sich, beinahe buchstäblich, bis zu den Hüften in unklassifizierten Fossilien.
Cass benutzte gerade einen Zahnstocher, um eine spiegelglatte Rundung aus mineralisiertem Gebein von der festgedrückten ziegelfarbigen Erde zu trennen. Das Stück löste sich und plumpste in ihre Hand: ein schwarzer, blattförmiger Stumpf aus Stein, der so glatt war, dass es aussah, als hätte man ihn poliert. Es handelte sich um den Zahn eines jungen Tarbosaurus – eines Theropoden, der während der Kreidezeit auf der Erde umherstreifte und dessen versteinerte Überreste bis genau zu diesem Augenblick ausschließlich in der Wüste Gobi gefunden worden waren. Cass hatte diese Lebewesen detailliert studiert und besaß jetzt den Beweis, den sie zur Untermauerung der Theorie benötigte, dass von ihnen eine weiter verstreute Population existiert hatte als zuvor gedacht. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte die Sicherstellung eines solchen Fundstücks sie dazu veranlasst, rund um das Lager Purzelbäume zu schlagen. Heute jedoch warf sie das Fossil bloß in einen Plastikeimer mit anderen Schätzen dieser Art, hielt inne und richtete sich auf. Sie drückte sich die Hand ins schmerzende Kreuz, seufzte auf und rieb sich den Schweiß aus dem Nacken. Dann schirmte sie ihre Augen vor der gnadenlosen Nachmittagssonne ab und murmelte: »Wo ist Freitag?«
Sie überflog rasch das sie umgebende Terrain. Ihr Blick traf auf dieselbe trostlose Landschaft, die in den einundzwanzig
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