Die Seelenzauberin - 2
gar nicht erst vorstellen, was geschähe, wenn es zu regnen anfinge, während sie noch hier draußen war. Eines nach dem anderen , beschwor sie sich tapfer. Kümmere dich um das, was ansteht. Wenigstens hatten Anukyats Männer die Verfolgung noch nicht aufgenommen. Wenn die Götter wollten, kamen sie an Rhys und seinen Männern nicht vorbei. Rhys … sie musste sich die Tränen aus den Augen blinzeln, bevor sie ihren Weg fortsetzen konnte. Bitte beschützt ihn , flehte sie zu ihren Göttern. Sie hatte mehr Angst um ihn als um ihr eigenes Leben. Nein, sie könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren. Nicht auf diese Weise.
Denk nicht an ihn, das kannst du dir nicht leisten. Denk nur ans Klettern, an nichts sonst.
Sie brauchte eine Ewigkeit bis zu dem Sims, das ihr Kamala gezeigt hatte; danach war sie völlig außer Atem und musste erst einmal verschnaufen. Zum Glück hatte die Spitze des Felsturms unter der Witterung schlimmer gelitten als die unteren Partien, sodass sie hier mehr Griffe vorfand. Doch auch das hätte sie nicht gerettet, wenn Ramirus mit seiner Leistungssteigerung nicht dafür gesorgt hätte, dass sie den Strapazen auch körperlich gewachsen war.
Als sie die Stelle erreicht hatte, wo Kamala wartete, brannten ihre Armmuskeln wie Feuer, und sie wusste, dass nur sein Zauber sie vor quälenden Krämpfen bewahrte.
Nachdem sie wieder zu Atem gekommen war, schob sie sich auf Kamalas schmales Sims und arbeitete sich – nur auf der Innenkante der Füße, den Körper fest gegen den Fels gepresst und mit den Händen nach allem tastend, was Halt versprach – langsam daran entlang. Einmal brach unter ihrem rechten Fuß der Stein weg, und ihr blieb fast das Herz stehen, aber es gelang ihr, mit den Händen festgeklammert zu bleiben und das Gewicht nach links zu verlagern, bis sie wieder einen sicheren Stand hatte. Nach ein paar zittrigen Atemzügen schob sie den rechten Fuß zaghaft weiter und fand hinter der Bruchstelle festen Tritt. Sie prüfte den Untergrund ein paar Mal mit den Zehen, bevor sie ihm ihr Gewicht anvertraute, und wurde sich ihrer Unerfahrenheit wieder einmal schmerzlich bewusst. Würde sie ein brüchiges Sims überhaupt erkennen? Doch als sie sich vollends daraufstellte, hielt der Fels stand, sie atmete auf und setzte ihren Weg fort.
Nach einer Weile wurde das Sims so breit, dass sie fast den ganzen Fuß aufsetzen konnte. Eine Wohltat. Sie schob sich langsam um eine schmale Säule herum, schrammte dabei mit dem Körper über den rauen Fels und bemerkte eine dünne Blutspur, konnte aber nicht innehalten, um nachzusehen, wo sie sich verletzt hatte. Schließlich war so etwas wie ein Ruheplatz erreicht, eine tiefe, senkrechte Rille zwischen zwei Säulen, so breit, dass ihr Körper darin Platz fand. Das Sims verbreiterte sich hier zu einer Plattform, auf der sie bequem stehen konnte. Dankbar duckte sie sich in die Schatten, verkeilte sich so fest, dass allenfalls ein Erdbeben sie hätte herausschütteln können … und dann kamen die Tränen. Sie ließ ihnen freien Lauf. Nur die Götter wussten, ob ihre Begleiter noch am Leben waren, aber selbst wenn – von nun an ruhte die Mission allein auf ihren Schultern.
Endlich wischte sie sich mit ihrem zerrissenen, schmutzigen Ärmel über das nasse Gesicht und wappnete sich für die nächsten Anforderungen. Du musst stark sein. Du musst weitermachen. Als sie wieder klar sehen konnte, verstand sie, warum Kamala sie an diese Stelle dirigiert hatte. Ihr Ruheplatz war das untere Ende eines schmalen Kamins, dessen Wände von schräg verlaufenden Spalten durchzogen waren. Hier würde sie reichlich Griffe finden. Außerdem wäre sie beim Aufstieg auf drei Seiten von festem Gestein umgeben und nicht mehr von freier Luft. Das hatte zumindest den Anschein von Sicherheit.
Das kann ich schaffen , dachte sie. Und dann: Ich muss es schaffen.
Kamala kreischte plötzlich, eine unverkennbare Warnung. Gwynofar erschrak und wich schleunigst zurück in den Schatten. Dabei sah sie dort, wo sie eben noch gewesen war, andere Schatten, die sich bewegten. Stieg da etwa jemand aus dem Fenster, um ihr zu folgen? Sie wagte nicht, sich vorzubeugen, um sich zu vergewissern. Mit wild pochendem Herzen machte sie sich so klein wie möglich und hob die Arme, um ihr leuchtend blasses Gesicht hinter dem groben grauen Wollstoff ihres Hemds zu verbergen. Eine Sekunde verging. Dann zwei. Eine Ewigkeit. Vor ihrer Felskammer pfiff der kalte Wind vorbei. Dann piepste der Vogel wieder, diesmal
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