Wienerherz - Kriminalroman
In ihren knochigen Händen
Laurenz Freunds Körper vibrierte. Seit seiner Kindheit liebte er dieses Gefühl bei den Fahrten über die Pflastersteine der Höhenstraße. Was für ein Anachronismus, diese Straße!, dachte er. Fabelhaft, dass sie heute noch so bestand. Die sanft eingegrabenen Spurrillen an manchen Stellen erzählten von unzähligen Ausflügen der Wienerinnen und Wiener mit dem Automobil in ihren Wald und verliehen der Straße ebenso ihren unverwechselbaren Charakter wie die Bombierung an anderen Stellen, wo der Mittelteil der Straße höher war und sie zum Rand hin abfiel.
Wann immer er die Kurven durch den Wald oberhalb Wiens fuhr, sah er im Geist schwarz-weiße Bilder von sehnigen Männern in weiten Hosen und ärmellosen Leibchen, ihre sonnenverbrannte Haut von Staub bedeckt, nur den Kopf von einem Hut oder einer Kappe gegen Sonne und Wetter geschützt, wie es in den dreißiger Jahren noch üblich war, bevor das bloße Haupt Einzug in die Männermode gehalten hatte. In Gruppen knieten sie nebeneinander, hieben mit den Hämmern in ihren knochigen Händen einen Pflasterstein neben den anderen an seinen Platz. Um während der Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts möglichst vielen Menschen Arbeit zu geben, hatte man auf schwere Maschinen verzichtet. Seit 1935 schlängelte sich Wiens mit fast fünfzehn Kilometern längste Straße entlang der Hügelhänge durch den Wienerwald im Westen der Stadt. Bis 2010 war sie unter Denkmalschutz gestanden. Wie konnte man nur auf die Idee kommen, dieses wunderbare Stück Zeitgeschichte durch eine profane Asphaltfahrbahn zu ersetzen?, fragte sich Freund. Im Sommer fuhr man durch grün leuchtende Waldtunnel, dazwischen gewährten große Wiesen überraschende und spektakuläre Blicke auf die Stadt. Der Herbst legte sich gern mit dicken Nebeldecken auf die Strecke, doch an diesem Morgen brachte die Sonne das bunte Laub zum Glühen. Im Schatten unter der Farbenpracht entdeckte Freund die zwei Einsatzwagen am Straßenrand. Daneben wartete ein uniformierter Polizist. Dahinter führte eine schmale Forststraße, eher schon ein Waldweg, ins Gehölz. Auf beiden Seiten spannten sich Absperrbänder von Baum zu Baum. Der Streifenbeamte erklärte Freund den Weg. Freund beschloss, die restliche Strecke zu Fuß zu gehen, und stellte den Wagen ab.
Die Luft war kühl, fast frostig. Es war der 10. Oktober. Freund zog die Jacke am Kragen zusammen und versenkte die Hände in den Taschen. Im Lauf des Tages sollte es wärmer werden, ein Altweibersommertag. Er sog den Geruch des Waldes ein. Um keine Spuren zu zerstören, ging er außerhalb der Absperrung zwischen den Bäumen hindurch. Seine Füße raschelten durch das rote und gelbe Laub. Er spürte die Bereitschaftsnacht in den Gliedern. Die Bewegung tat ihm gut. Vor zwei Stunden mussten Lia Petzold und Alfons Wagner zu einer Messerstecherei im zehnten Bezirk, bei der einer liegen geblieben war. Zeugen hatten die Täter erkannt, und die Fahndung war draußen. Kaum eine Stunde später waren Marietta Varic und Lukas Spazier zu einem Familienstreit in den zweiundzwanzigsten Bezirk ausgerückt. Die Frau hatte ihrem betrunkenen Mann eine zerschlagene Flasche in den Hals gerammt. Die Vorausteams, die üblicherweise als Erste an Tatorte gerufen wurden, um zu entscheiden, ob überhaupt Ermittler aus einer der Gewaltgruppen anrücken sollten, waren ebenfalls alle unterwegs.
Blieb nur mehr er, nach dem Anruf vor einer Viertelstunde. Als sie ihm mitteilten, was sie gefunden hatten, überlegte er einen Moment, gar nicht hinzufahren.
Er musste nicht weit gehen. Zwischen den Bäumen warteten drei Polizisten und ein Mann mit Hund. Noch etwas weiter stand ein graues Auto schräg auf dem Waldweg. Als Freund sich näherte, begann der Hund zu bellen. Sein Herrchen versuchte, ihn zu beruhigen. Freund schätzte den Mann auf Anfang siebzig. Sein Hund war eine nicht mehr ganz junge, übergewichtige Promenadenmischung mit zotteligem Fell und lustigen Augen. Er ließ sich von Freund über den Kopf streicheln und wedelte dabei mit dem Schwanz.
»Herwig Tabelan«, stellte sich sein Herrchen vor. »Ich habe«, er stockte, dann zeigte er mit dem Daumen über die Schulter, »den da gefunden.«
»Danke, dass Sie uns angerufen haben«, sagte Freund. »Die Kollegen haben sicher schon ein Protokoll aufgenommen. Wenn nicht, werden sie das gleich tun. Ich muss mir kurz die Situation ansehen. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Freund ließ
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