Die Seelenzauberin
konnten, musste eben bleiben, wie es war.
Er hatte sich nicht zugetraut, ein Rasiermesser zu handhaben.
»Hat man dich gerufen?«, sagte er. Eine Frage. Ihr Besuch wärmte sein Herz, brachte ihn aber auch in Bedrängnis. Er hatte Geheimnisse zu hüten, und sie war der einzige Mensch, den er noch nie hatte belügen können. »Das war nicht recht.«
Aber sie schüttelte den Kopf. »Ich habe erst bei meiner Ankunft erfahren, dass du hier bist. Mutter hat es mir gesagt. Daraufhin bin ich sofort zu dir gekommen.« Sie streckte die Hand aus und strich ihm einen Zopf aus der Stirn, der sich gelöst hatte; eine mütterliche Geste, sanft und tröstend. »Salvator hat mich geschickt, und jetzt bin ich froh darüber.«
Ihre Besorgnis war so greifbar, dass er es kaum ertragen konnte; so viel Zuneigung verdiente er nicht mehr. »Was hat man dir gesagt?«, fragte er weiter, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen.
»Du seiest auf einer Mission im Alkal-Gebiet gewesen, deine Begleiterin sei getötet worden, und dich habe der Oberste Hüter dort gefangen nehmen lassen. Eine Hexe habe dir zur Flucht verholfen und dich nach Hause gebracht. Und alle alkalischen Hüter hätten den Verstand verloren.«
Ein leichtes Zucken der Mundwinkel. Früher, in weniger schwierigen Zeiten, wäre vielleicht ein Lächeln daraus geworden. »Sie heißt Kamala.«
»Und du hättest einen zerbrochenen Speer gefunden.«
Er erstarrte. »Ja.« Das Wort hatte in diesem Zusammenhang eine erschreckende Macht; er wagte es nur zu flüstern.
»Mutter sagte mir, der Anblick habe deine Seele verletzt. Und sie blute noch immer, obwohl du im Schoß deiner Familie bist.«
Überrascht sah er zu ihr auf. »Das hat sie gesagt?«
Gwynofar nickte. »Sie mag dich sehr, Rhys.«
Er schloss die Augen. »Das sollte sie nicht«, flüsterte er. »Ich bringe Schande über ihr Haus.«
Seufzend streckte sie die Hand aus und strich ihm über die Wange. »Du bist die Freude deiner Schwester und der Stolz deines Vaters. Vielleicht ist das auch für sie wichtig.«
Er sagte nichts.
»Was ist dir da draußen widerfahren, Rhys? Ich habe dich gesehen, nachdem du mit dem Seelenfresser gekämpft hattest und fast erdrückt worden wärst, und selbst da warst du lebendiger als jetzt.« Sie musterte ihn aufmerksam von Kopf bis Fuß, und was sie sah, beunruhigte sie sichtlich. »Was bedrückt dich, mein Bruder? Sag es mir.«
Er holte tief Atem und bemühte sich, mit fester Stimme zu sprechen: »Ich sah einen zerbrochenen Speer, der nicht mehr zu heilen war. Ich sah, dass der Heilige Zorn wankte. Ich erfuhr, dass der Seelenfresser, den ich getötet hatte, nicht als Einziger in die Reiche der Menschen eingedrungen war. Wahrscheinlich war er nur der erste von vielen gewesen.« Er rieb sich die Stirn, als könnte er damit die Erinnerungen auslöschen. »Das genügt, denke ich, um jeden Menschen verzweifeln zu lassen.«
Und ich erfuhr, dass die alten Götter nicht existieren … oder dass es sie zumindest nicht kümmert, ob wir leben oder sterben. Dass unser heiliger Auftrag auf eine von Menschen begangene Gräueltat zurückgeht, die so schrecklich war, dass schon ihr Widerhall genügte, um den stärksten Fluch der Welt entstehen zu lassen. Ich erfuhr, dass Mythen nichts als Lügen sind.
Vielleicht hätte sie in diesem Augenblick mit ein paar Worten seinen Widerstand brechen und ihn zwingen können, ihr die Wahrheit zu sagen. Die Götter wussten, wie sehr es ihn drängte, sich jemandem mitzuteilen, um die Finsternis zu vertreiben, die seine Seele besetzt hielt. Dann würde auch der Druck von seiner Brust weichen und er könnte wieder atmen. Und wenn jemand bereit war, die Last mit ihm zu teilen, dann war es Gwynofar.
Doch bevor er wankend werden konnte, klopfte jemand an die Tür, und damit war die Gelegenheit zu einem vertraulichen Geständnis vorüber. Rhys holte tief Atem, während Gwynofar hinging und öffnete. Draußen stand ein Diener des Erzprotektors.
»Es ist so weit«, verkündete er und verneigte sich. »Die Herrschaften lassen Euch bitten, in den Kartenraum zu kommen.«
»Wir sind schon unterwegs«, erklärte Rhys. Der Diener verneigte sich abermals und entfernte sich; er hatte wohl noch andere Einladungen zu überbringen.
Gwynofar sah ihren Bruder fragend an.
»Der Meisterarchivar beschäftigt sich seit Längerem mit der Deutung einiger Zeichen, die wir im Inneren des zerbrochenen Speers gefunden haben«, erklärte Rhys. »Wir warten auf seinen Bericht.«
Sie nickte und
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