Die Seelenzauberin
Wucherungen. Waren die Stacheln bei einem Kampf abgebrochen, oder hatte jemand sie absichtlich entfernt? Das Abbild lieferte keinen Hinweis darauf.
Endlich verstummten die Sänger.
Das Bild verblasste.
»Mögen die Götter uns gnädig sein«, murmelte Meister Favias.
Der Hüter, der am nächsten bei den Türen gesessen hatte, stieß diese nacheinander auf und ließ wieder Tageslicht in das Versammlungshaus einströmen. Die Nachmittagssonne beschien ein Durcheinander von Ornamenten an den Wänden, an der Decke und auf den Balken des primitiven Gebäudes. Keirdwyn-Knoten, Skandir-Piktoglyphen und Schlachtgebete in fließender Tonado-Kalligraphie. Vierzig Generationen von Heiligen Hütern hatten diesem Gebäude ihre Spuren aufgeprägt, und jedes Mal, wenn ein Teil des Hauses instand gesetzt werden musste, hatte man die Schnitzereien sorgsam konserviert. Den Mythen zufolge war kein einziges Stück jemals verloren gegangen. Holz mochte verrotten, Mörtel mochte zerfallen, doch die Botschaften, die frühere Hüter hinterlassen hatten, waren im wahrsten Sinne des Wortes ewig.
Die Seher erhoben sich, und auch die Heiligen Hüter dahinter standen auf. Meister Favias schüttelte einem nach dem anderen die Hand, verneigte sich tief und sprach ihm feierlich den Dank seines Protektorates aus. War ein Banngesang erfolgreich und die Götter erhörten die Bitte um Annahme des Opfers, dann hatte jeder der beteiligten Hexen und Hexer einen Teil seiner Lebensenergie für die gemeinschaftliche Beschwörung hingegeben. Wäre der Banngesang dagegen gescheitert – oder wären die Götter mit ihren Bemühungen nicht zufrieden gewesen –, dann hätte womöglich ein Mann oder eine Frau den gesamten Preis allein zu entrichten gehabt. In beiden Fällen war jeder der Seher bereit gewesen, etwas von ihrem oder seinem Leben zu opfern, um den Heiligen Hütern behilflich zu sein, und das musste gebührend gewürdigt werden.
Einige der Seher verabschiedeten sich, sie waren von der Anstrengung erschöpft; die Hüter verneigten sich ehrfürchtig vor ihnen. Andere wollten noch bleiben, um zu hören, was ihre Beschwörung an Erkenntnissen gebracht haben mochte.
Nun richtete der Oberste Hüter des Keirdwyn-Protektorats den Blick auf Rhys. Der hatte eine grimmige Miene aufgesetzt, starrte immer noch auf die Stelle, wo soeben sein Kampf mit dem Seelenfresser gezeigt worden war, und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. »Du hast dich wacker geschlagen«, sagte Meister Favias.
»Ich war unvorsichtig«, wehrte Rhys scharf ab. »Wenn mich nicht ein Magister geheilt hätte, ich hätte nicht überlebt.«
Meister Favias trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seit mindestens tausend Jahren hat kein Mensch mehr gegen eines dieser Ungeheuer gekämpft. In all der Zeit hat man noch nicht einmal ein lebendes Exemplar zu Gesicht bekommen. Dennoch bist du dem Feind, nur vom Wissen aus einigen Mythen geleitet, entgegengetreten und hast ihn besiegt. Und dann hast du Proben für uns gesammelt, die uns helfen werden, uns für die nächste Schlacht zu wappnen. Du hast dich wacker geschlagen «, wiederholte er eindringlich, »wer immer dir auch geholfen haben mag.«
Rhys neigte zögernd den Kopf zum Zeichen, dass er das Lob annahm, aber man sah ihm an, dass er nicht völlig überzeugt war.
»Und nun wollen wir wissen, wo diese verfluchte Kreatur sich jetzt befindet. Liegt sie an einem Ort, an den wir unsere Gelehrten schicken können, um sie zu studieren?«
Rhys schüttelte den Kopf. »Die Großkönigin hat versucht, den Leichnam für uns konservieren zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Das Ungeheuer ist nicht in Fäulnis übergegangen wie andere Lebewesen. Die inneren Organe hatten sich bereits binnen weniger Stunden, nachdem es verendet war, restlos zersetzt, und die Haut hatte sich aufgelöst wie bei einem eine Woche alten Kadaver. Es ist von innen nach außen verwest.« Bei der Erinnerung daran schüttelte er zum wiederholten Mal enttäuscht den Kopf. »Ich wollte mir die Knochen ansehen, ob sie womöglich hohl wären wie bei Vögeln – das wäre ein Schwachpunkt, den man sich merken sollte –, doch als ich so weit vorgedrungen war, begann das Skelett bereits von innen her zu zerfallen, ich könnte es also nicht mit Sicherheit sagen. Selbst die wenigen Proben, die ich entnehmen konnte, hielten sich nicht lange. Letztlich musste der Kadaver verbrannt werden, damit das Gift nicht auf andere Lebewesen übergriff. Das ist alles, was
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