Die Wahrheit über Marie - Roman
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I
Später, als ich an die dunklen Stunden dieser glutheißen Nacht zurückdachte, wurde mir bewusst, dass wir beide, Marie und ich, damals im gleichen Augenblick Liebe gemacht hatten, nur nicht miteinander. Zu einer bestimmten Zeit derselben Nacht – die erste Hitzewelle des Jahres war brutal über die Stadt hereingebrochen, drei Tage hintereinander herrschten in Paris Temperaturen von bis zu 38 Grad Celsius und nie unter 30 Grad – machten Marie und ich Liebe, in Appartements, die kaum einen Kilometer Luftlinie voneinander entfernt lagen. Zu Beginn des Abends konnte sich natürlich keiner von uns beiden vorstellen, auch nicht später, zu keinem Moment, es war schlicht unvorstellbar, dass wir in dieser Nacht aufeinandertreffen würden, dass wir noch vor dem Morgengrauen zusammen sein, wir uns in dem dunklen, förmlich auf den Kopf gestellten Flur unserer Wohnung sogar kurz umarmen würden. Aller Wahrscheinlichkeit nach, angesichts der Uhrzeit, zu der Marie in die Wohnung zurückgekehrt ist (in unsere Wohnung oder vielmehr in ihre Wohnung , man müsste jetzt sagen in ihre Wohnung , weil wir seit fast vier Monaten nicht mehr zusammenwohnten), und angesichts der fast identischen Uhrzeit, zu der ich in meine kleine Zweizimmerwohnung zurückkehrte, in die ich nach unserer Trennung gezogen war, nicht allein, ich war nicht allein – mit wem ich zusammen war, spielt keine Rolle, darum geht es hier nicht –, dürfte es zwanzig nach eins, höchstens halb zwei morgens gewesen sein, als Marie und ich in dieser Nacht in Paris Liebe machten, beide leicht betrunken, mit heißen Körpern im Halbdunkel bei weit geöffneten Fenstern, durch die doch kein Lufthauch ins Zimmer drang. Die Luft war stickig und drückend schwül, es herrschte eine fast fiebrige Temperatur, die die Atmosphäre nicht abkühlte, dafür aber die Körper stärkte, auf denen die Hitze selbstherrlich und schwer lag. Es war etwa zwei Uhr morgens – ich weiß es, denn ich habe auf die Uhr gesehen, als das Telefon klingelte. Aber ich will, was die genaue Abfolge der Ereignisse jener Nacht betrifft, lieber vorsichtig sein, denn immerhin geht es um das Schicksal eines Mannes, um seinen Tod, lange hatte man nicht gewusst, ob er überleben würde oder nicht.
Ich habe sogar seinen richtigen Namen nie wirklich gekannt, ein Name mit Bindestrich: Jean-Christophe de G. Marie war nach einem gemeinsamen Abendessen mit ihm ins Appartement in der Rue de La Vrillière gegangen, es war die erste Nacht, die die beiden zusammen in Paris verbrachten, sie hatten sich im Januar in Tokio auf der Vernissage von Maries Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa kennengelernt.
Es war kurz nach Mitternacht, als sie das Appartement in der Rue de La Vrillière erreichten. Marie hatte eine Flasche Grappa aus der Küche geholt, und sie setzten sich mit lässig ausgestreckten Beinen ins Schlafzimmer aufs Parkett am Fußende des Bettes, mitten in ein Durcheinander aus Polstern und Kissen. Es herrschte eine schwere, stockende Hitze in der Wohnung der Rue de La Vrillière, wo die Fensterläden seit dem Vorabend geschlossen waren, als Schutz vor der Hitze. Marie hatte das Fenster weit geöffnet und im Halbdunkel sitzend den Grappa eingeschenkt, sie beobachtete, wie die Flüssigkeit durch die versilberte Dosierungsvorrichtung der Flasche langsam in die Gläser floss, und spürte sofort, wie das Aroma des Grappas ihr zu Kopfe stieg, sie nahm in Gedanken den Geschmack vorweg, bevor die Zunge ihn erkundet hatte, diesen parfümierten, fast likörartigen Grappageschmack, eine Erinnerung, die sie seit mehreren Sommern in sich trug und unweigerlich mit Elba assoziierte, eine Erinnerung, die unvermittelt und unerwartet in ihr Bewusstsein stieg. Sie schloss die Augen und nahm einen Schluck, beugte sich hinüber zu Jean-Christophe de G. und küsste ihn mit feuchtwarmen Lippen, mit einer plötzlichen Empfindung von Frische und Grappa auf der Zunge.
Einige Monate zuvor hatte sich Marie auf ihrem Laptop eine Software installieren lassen, mit der sie völlig illegal Musikstücke aus dem Internet herunterladen konnte. Ausgerechnet Marie, die als Erste mit Erstaunen reagiert hätte, wäre sie auf den kriminellen Charakter dieser Praktiken aufmerksam gemacht worden, Marie, meine Piratin, die ansonsten ein Vermögen für einen Stab von Wirtschaftsanwälten und weltweit agierenden Juristen ausgab, um gegen die Fälschungen ihrer Marken in Asien vorzugehen, Marie erhob sich, schritt durch den
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