Die Sehnsucht der Falter
sei. Ich bot ihr an, sie morgen einzutragen, weil sie sagte, sie sei von der langen Anreise völlig erschöpft. Ihre Antwort: »Wie du willst.«
Endlich. Das muss Lucy sein!
11. September
Gestern kam Sofia nach dem Abendessen in mein Zimmer gestürmt. »Wir haben jetzt einen Mann als Englischlehrer«, sagte sie. »Und er ist ein Dichter!«
Er heißt Mr. Davies. Ich habe bei ihm »Das Unglaubliche: die Literatur des Übernatürlichen«. Dieser Kurs war mir am liebsten, doch es interessiert mich nicht weiter, ob ich einen Mann als Lehrer habe. Alle anderen drehen durch. Diejenigen, die es nicht in seine Kurse geschafft haben, sind total eifersüchtig. Ich erinnere mich, wie Miss Watson einmal einen Mann mit in die Schule brachte. Den ganzen Tag gab es kein anderes Thema. Dora hat »Das Zeitalter des Abstrakten« belegt. Sie muss lauter schwere Sachen wie Dostojewski und Gide lesen. Ich bin froh, dass sie nicht in meinem Kurs ist.
Sofia sagte: »Ist es dir völlig egal, dass du in seinem Kurs bist? Das ist doch übernatürlich.«
Er sieht gut aus, hat halb langes, braunes Haar und einen Schnurrbart. Er ist Mitte dreißig und verheiratet. Er trägt einen Ehering. Claire ist nach nur einer Stunde wild in ihn verliebt. Auf seinem Pult lag ein Stapel Lyrikbände, obendrauf sämtliche Gedichte von Dylan Thomas.
»Du kannst ihm erzählen, dass dein Vater ein berühmter Dichter war, bevor er sich umgebracht hat«, flüsterte Claire mir zu.
Sie ist eine blöde Kuh.
»Er war nicht berühmt«, sagte ich nur.
Sie ist eifersüchtig auf mich, weil ihr Vater bloß ein langweiliger Rechtsanwalt ist. Sie glaubt, Mr. Davies würde sich in sie verlieben, wenn ihr Vater Schriftsteller wäre. Außerdem hat mein Vater nicht nur geschrieben, er hat auch in einer Bank gearbeitet. Schreiben sei sein Hobby, sagte er immer.
12. September
Ich habe beschlossen, jeden Tag mindestens eine Seite in mein Tagebuch zu schreiben, sozusagen als freie Übung. Gleich nach Beginn der Ruhezeit fange ich damit an, dann vergesse ich es nicht. Ich schreibe auch am Wochenende. Ich möchte über das schreiben, was ich tagsüber erlebe – welche Hausaufgaben ich habe, was es zum Abendessen gibt, wie wir beim Hockey abgeschnitten haben, wer mir auf die Nerven geht. Keine Träumereien über Jungen oder sonst etwas. Es soll ein Bericht sein. Ich werde ihn später lesen und genau wissen, was ich mit sechzehn erlebt habe.
Ich werde jeden Tag zur selben Zeit Klavier üben, und zwar in der Freistunde vor dem Mittagessen. Ich versuche mich seit fast einem Jahr an einer Mozartsonate und kann sie immer noch nicht so spielen, wie ich gern möchte. Ich wünschte, ich könnte mich ans Klavier setzen und die Musik mühelos hervorbringen. Stattdessen quäle ich mich damit herum. Manchmal spiele ich ein Stück richtig gut, doch dann kommt es mir beinahe vor, als spielte ich gar nicht selbst. Miss Simpson sagt, ich müsse an meiner Konzentration arbeiten. Es stimmt, meine Gedanken schweifen ab, während ich spiele. Ich will mich konzentrieren, doch nach wenigen Minuten vergesse ich die Musik und frage mich, was es zum Mittagessen gibt.
Egal, die ersten drei Tage waren perfekt.
15. September
Ich habe gegen meinen Entschluss verstoßen, jeden Tag zu schreiben, aber das macht nichts. Niemand kontrolliert mich. Ich hatte wirklich viel zu tun. Bei sämtlichen Lehrerinnen gab es von der ersten Stunde an eine Menge Hausaufgaben. Lucy ist schon völlig von der Rolle. In Chemie ist sie hoffnungslos. Wie soll sie das Schuljahr nur überstehen?
Ansonsten ist nicht viel passiert. Ich habe mich wieder für Hockey gemeldet, obwohl Miss Bobbie mich nie aus der B-Mannschaft nehmen wird. Es war schwer genug, überhaupt in die B-Mannschaft zu kommen. Ich bin nur drin, weil ich in die elfte Klasse gehe. Sie mag die blonden Mädchen mit den langen, glatten Haaren, die typischen Tagesschülerinnen. Keine Jüdinnen aus dem Internat. Sosehr ich auch trainiere, ich werde nie in eine höhere Mannschaft kommen. Obwohl ich meinen Namen an genau der Stelle erwartete, war ich trotzdem enttäuscht, als die Listen am schwarzen Brett der Sportabteilung ausgehängt wurden. Und Lucy ist in der A-Mannschaft. Ohne etwas dafür zu tun. Miss Bobbie mag Lucy natürlich. Sie ist die Göttin des Feldhockey. Wäre sie nicht meine Freundin, würde ich sie hassen. Sie legte den Arm um mich und flüsterte mir ins Ohr: »Nicht weinen. Wenn sie sieht, wie gut du bist, kommst du in die andere Mannschaft.«
Miss
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