Die Sehnsucht der Falter
geschlossene Tür auf dem Flur. Ich würde niemals reingehen, ohne anzuklopfen. Ich war nur einmal drin, als die Tür offen stand und Ernessa gerade mit Dora sprach. Vermutlich redeten sie über Nietzsche oder so was, Dora spricht nämlich über nichts anderes. Außer über Drogen, von denen sie eine Menge zu nehmen scheint. Dora schreibt einen Roman, der auf Nietzsches Philosophie basiert. Sie habe bereits dreihundert Seiten geschrieben, sagt sie. Sie will ihn mir erklären. Es sei ein Dialog zwischen Nietzsche und Brahms. Ich war praktisch in ihrem Zimmer gefangen, während sie mir Passagen aus Also sprach Zarathustra vorlas. Sie gibt sich überhaupt nur mit mir ab, weil alle anderen »o nein …« stöhnen, wenn sie davon anfängt. Gleichzeitig soll ich mich wohl geschmeichelt fühlen, weil sie mich aufklärt. Dora ist ein Mensch, den man zu mögen glaubt, bis er einen beleidigt, indem er einen wie einen Blödmann behandelt. Letztlich weiß ich nicht, ob ich sie überhaupt mag oder sie mich. Ich bekomme die besten Noten, aber sie hält sich für die Klügste. Die Intellektuellste. Sie sagt immer: »Ich nehme Noten nicht ernst. Wahre Intelligenz kann man damit nicht messen, sondern nur, wie gut einer das Futter wiederkäut, das die Lehrerin ihm gegeben hat.«
Ernessa wirkt ganz schön intelligent. Vielleicht würde sie Nietzsche besser verstehen als ich, das ganze Zeugs von wegen Übermensch und dem Mythos von der ewigen Wiederkehr. Jedenfalls steckte ich den Kopf zur Tür hinein – um mir ihr Zimmer anzusehen, nicht um mir eine tief schürfende philosophische Diskussion anzuhören. Ernessa sah mich an, als wollte sie sagen: »Was willst du hier?« Ich hatte kein wichtiges Gespräch gestört. Sie redeten über Möbel. Ernessa wollte ihre Frisierkommode an die Tür stellen. »Dann kommt man nicht mehr rein«, sagte ich. Sie beachtete mich gar nicht, hob die Kommode hoch und trug sie durchs Zimmer. Dora und ich schauten sie an. Dora fragte: »Wie kannst du die tragen? Sie muss unheimlich schwer sein.« Ernessa schien überrascht. »Wenn ihr mich nun entschuldigen würdet.«
Außer ihr redet hier niemand so.
Sie stand an der Tür und wartete, dass wir gingen. Mir gefällt nicht, wie Ernessa mich ansieht. Ich hatte geglaubt, wir könnten uns anfreunden, aber daraus wird wohl nichts.
Auch riecht es in ihrem Zimmer, obwohl es ganz sauber und praktisch leer ist. Eine Frisierkommode, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Bett, nackter Fußboden. Das ist alles. Vielleicht kommt der Geruch aus dem Bad. Es ist ein modriger, fauliger Geruch.
Dora gab mir Nietzsche mit, und ich blätterte das Buch durch. Ich verstehe nicht, wie jemand einen Roman schreiben kann, der auf diesem Buch basiert. Das finde ich unglaublich arrogant.
Folgende Stellen waren unterstrichen:
»Wehe allen Liebenden, die nicht noch eine Höhe haben, welche über ihrem Mitleiden ist.«
»Auch Gott hat seine Hölle: das ist seine Liebe zu den Menschen.«
»Und jüngst hörte ich ihn dies Wort sagen: ›Gott ist todt; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.‹ … Also sprach Zarathustra.«
Na und?
20. September
Das Wochenende kriecht dahin: Vermutlich kommt Lucy erst nach dem Abendessen zurück, bis dahin sind es noch drei Stunden. Um zehn Uhr heute Morgen bekam ich allmählich Angst. Ich warte, dass etwas geschieht, habe aber keine Ahnung, was das sein soll. Ich würde besser Klavier üben. Ich würde besser Hausaufgaben machen. Ich würde besser lesen. Nach dem Mittagessen kaufte ich Carol ein Päckchen Kekse ab, die sie für die Service League verkauft, las für Englisch »Meine Schwester Antonia« und aß dabei die Kekse. Es ist noch September, aber in meinem Zimmer ist es schon ganz kalt. Meine Hände und Füße waren wie Eis. Ich konnte sie nicht aufwärmen. Aber ich vergaß es, weil mir die Geschichte so gut gefiel. Als ich fertig war, las ich sie gleich nochmal.
Ich blätterte ohne Unterbrechung von der ersten zur letzten Seite, versank tiefer und tiefer in der Zwielichtsprache. Eine solche Geschichte würde ich schreiben wollen, alles so sorgfältig anordnen, Detail um Detail, und wenn dann etwas völlig Ungewöhnliches geschähe, würde es absolut normal, geradezu unvermeidlich wirken. Die Geschichte ist vollkommen. Ich brauche nur etwas, über das ich schreiben kann. Wie fallen Schriftstellern wirklich gute Geschichten ein? Ich bin sicher, sie würde niemandem außer mir gefallen. Die anderen würden sagen: »Und was will uns
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