Die Sehnsucht der Falter
die Geschichte sagen?« Sie wollen alles erklärt haben, obwohl sie einen Kurs über das Übernatürliche belegt haben. Was erwarten sie denn? Zugegeben, Mr. Davies hat einige ganz schön bizarre Geschichten ausgegraben. Manche sind so schwer aufzutreiben, dass er seine eigenen Bücher in die Bibliothek stellen musste. Wir können sie nur gegen Unterschrift für ein paar Tage ausleihen. Er sagt, es sei ihm egal, in welcher Reihenfolge wir sie lesen, was bedeutet, dass die meisten praktisch gar keine lesen werden. Wenn er so begeistert redet, fällt ihm auch nicht auf, dass sie miteinander flüstern oder Zettel weitergeben oder aus dem Fenster glotzen. Ich versuche, alles sofort zu lesen.
Ich werde die Liste abschreiben, damit ich daran denke, mir beim Lesen Notizen zu den Geschichten zu machen:
Carmilla von Sheridan Le Fanu
Der große Gott Pan von Arthur Machen
Meine Schwester Antonia von Ramón del Valle-Inclán Der König in Gelb von E. K. Chambers
Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf
Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff
Der Mann, den die Bäume liebten von A. Blackwood Sredni Vashtar von Saki
Rappaccinis Tochter von Nathaniel Hawthorne
Ein Nickerchen, bis Lucy kommt. Sie müsste bald hier sein.
Ich habe mein Schläfchen gemacht, und Lucy ist noch nicht da. Mir ist nicht danach, hinauszugehen und einen auf gesellig zu machen. Die anderen wollen nur high werden. Vor allem Charley. Ich sehe sie immer in Ernessas Zimmer huschen. Sie rauchen zusammen Dope. Sonst haben sie nichts gemeinsam. Ernessa scheint einen netten Vorrat zu besitzen. Charley begreift nicht, weshalb ich nicht gerne rauche. Ich verliere die Kontrolle über meine Gedanken.
Meine Lieblingsstelle aus Meine Schwester Antonia:
Eines Nachmittags nahm mich meine Schwester Antonia bei der Hand, um mit mir zur Kathedrale zu gehen. Antonia war viel älter als ich; sie war groß und bleich, mit dunklen Augen und einem etwas traurigen Lächeln. Sie starb, als ich noch ein Kind war. Doch wie gut erinnere ich mich an ihre Stimme, ihr Lächeln und die Kälte ihrer Hand, wenn sie mich nachmittags zur Kathedrale führte. Vor allem erinnere ich mich an ihre Augen und ihr tragisches Funkeln, als sie einem Studenten folgten, der, in einen blauen Umhang gehüllt, vor dem Portikus der Kathedrale auf- und abschritt. Ich fürchtete mich vor diesem Studenten: Er war hoch gewachsen und hager, und er hatte das Gesicht eines Toten. Er hatte die Augen eines Tigers, schreckliche Augen, unter einer strengen, schön geformten Stirn. Beim Gehen knirschten seine Knie, was ihn den Toten noch ähnlicher machte … Er holte uns an der Tür der Kathedrale ein, nahm mit seiner skelettartigen Hand vom Weihwasser und bot es meiner Schwester an, die erzitterte. Antonia schaute ihn flehend an, und er flüsterte mit dem Zucken eines Lächelns: »Ich bin außer mir.«
Wenn ich die Augen schließe, höre ich das leise Knirschen seiner Knie, wie er auf dem Flur vor meinem Zimmer auf- und abläuft. Ich überlege, wie es wäre, katholisch zu sein, die Hand in kaltes Wasser zu tauchen und an dessen Heiligkeit zu glauben.
22. September
Gestern war Lucy zur Ruhezeit nicht zurück. Normalerweise verbringen wir einen Teil der Zeit in ihrem Zimmer. Deshalb haben wir die Zimmer mit der Zwischentür. Im ersten Jahr kam ich mir in meiner kleinen Zelle sehr einsam vor. Erst als Lucy nicht auftauchte, wurde mir klar, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte, diese Zeit mit ihr zu verbringen. Zuerst reden wir immer ein bisschen. Dann sitze ich in ihrem Sessel und lese, während sie am Schreibtisch Hausaufgaben macht. Ich selbst brauche keinen Schreibtisch zum Arbeiten. Ich kann im Bett lernen, auf dem Boden, im Sessel, im Stehen. Lucy muss am Schreibtisch sitzen. Sie sagt, so könne sie sich besser konzentrieren. Normalerweise habe ich nur kluge Freundinnen, doch bei Lucy ist es mir egal. Dumm ist sie nicht. Sie ist eben nicht sehr gut in der Schule. Ihre Intelligenz ist anders als meine. Sie weiß, wie man mit allen zurechtkommt. Im letzten Jahr habe ich ihr bei den Deutsch-Hausaufgaben geholfen. Obwohl ich nie Deutsch hatte, konnte ich die Übersetzungen für sie erledigen.
Man muss einem Menschen vertrauen, bevor man Rituale zusammen haben kann. Mein Vater und ich hatten unsere Nachmittagsspaziergänge, unser Lesen vor dem Schlafengehen, und als ich noch ganz klein war, brannte nachts immer meine Nachttischlampe. Ich konnte nur bei diesem Licht
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