Die Silberdistel (German Edition)
die Gedanken der Frauen verstummten. Obwohl keine von ihnen gesprochen hatte, kam es Asa vor, als sei das laute Tösen eines Wasserfalls von einem Augenblick auf den anderen wie durch Geisterhand abgestellt worden. Ihr fehlte der Mut, in die hilflosen Gesichter zu schauen, auf denen sich das dämmernde Verstehen abzeichnete. So blickte sie wie alle anderen geradeaus. Auf einmal spürte sie, wie sich etwas gegen ihr Bein drückte. Sie drehte sich um und sah Find, der sich hinter ihrem Rücken versteckte. Mit seinen roten Augenbrauen und den spärlichen, blonden Haaren erinnerte er Asa nicht nur immer mehr an seinen Vater, sondern auch an ein Reh, das verletzt und hilflos durch den Wald irrt. Sie seufzte. Vielleicht hätten sie sich mehr um den Buben kümmern sollen, der an manchen Tagen in seiner Traurigkeit zu ertrinken drohte. Aber irgendwie war nie die Zeit für mehr Worte, mehr Liebkosungen übrig gewesen.
Find versuchte, sich so klein wie nur möglich zu machen. Womöglich würde Jerg bei seinem Anblick sonst gleich wieder losschreien. Er hatte den bösen Streit, an dem Jerg beteiligt gewesen und wobei dauernd sein Name gefallen war, nicht vergessen. Danach waren Jerg und Cornelius mit dem Pfarrer zusammen eilig weggegangen, und Marga hatte ihn am Arm gepackt und war mit ihm zu Asa gezogen. Immer wieder hatte Find sich gefragt, ob er wohl am Verschwinden der Männer schuld war, und da ihm niemand etwas anderes sagte, mußte es wohl so sein. Nun benahmen sich dieErwachsenen wieder so seltsam. Erleichtert atmete Find auf, als Jerg an Asa und ihm vorbeiging, ohne ihnen auch nur einen Blick zu schenken. Er beobachtete, wie Jerg vor Marga stehenblieb. Noch immer sprach keiner auch nur ein Wort. Find fröstelte es.
»Es ist vorbei, Marga.«
Jergs Stimme war ganz anders, als Find sie in Erinnerung hatte. Als ob der Wind sie in kleine Stücke zerrissen hatte, so hohl und leer klang sie.
»Alles ist vorbei. Alle sind tot. Alles ist umsonst gewesen.«
Bei diesen Worten brach das Unglück der Frauen endlich aus ihnen heraus. Der Tod ihrer Männer sollte umsonst gewesen sein?
Heulend gingen sie mit ihren Fäusten auf die beiden Heimkehrer los, als wollten sie ihnen ihr Überleben zum Vorwurf machen. Hilflos standen Asa und Marga daneben, während das Leid der anderen sich seinen Weg bahnte wie ein gewaltiger Strom, der sich weder von Fels noch Gestein aufhalten läßt. Nichts blieb ihnen übrig, als zuzusehen, wie in dem gewaltigen Strudel jedes andere Gefühl unterging: Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst – alles wurde von dem Leid der Frauen weggespült, bis sich dieser Strom in einen anderen ergoß und Wellen der Wut und der Enttäuschung überschwappten. Wie hatten die Männer sie im Stich lassen können? Nachdem sie, die Frauen, Woche um Woche alleine ums Überleben gekämpft hatten? Wie konnten sie ihre Weiber so enttäuschen? Keine wußte, wie es ohne die Männer im Dorf nun weitergehen sollte.
Nichts, aber auch gar nichts konnte Jerg den Frauen zum Trost sagen, und auch Weiland war das erste Mal in seinem Leben um trostreiche Worte verlegen. So standen sie mit den anderen da und weinten, bis die Tränen in ihren ausgemergelten Körpern versiegten.
Es war viele Tage später, als Jerg morgens aufwachte und die wärmenden Strahlen der Morgensonne, die durch diekleinen Luken ins Zimmer fielen, auf seinem Gesicht spürte. Seltsam berührt fuhr er sich mit der Hand über die Wangen. Die Kraft der Sonne durchdrang und erwärmte seine Haut. Nie hätte er in den letzten Wochen geglaubt, jemals wieder Freude über etwas so Alltägliches wie wärmende Sonnenstrahlen verspüren zu können. Wie hatte Cornelius’ roter Schopf in der Sonne immer kupfrig geglänzt! Seine Augen fühlten sich heiß an, begannen zu brennen, und es dauerte eine Weile, bis Jerg merkte, wie ihm die Tränen übers ganze Gesicht liefen. Kleine, salzige Rinnsale, die im Sonnenlicht silbrig glitzerten. Tausend Gedankensplitter nisteten sich in seinem Herz ein: Cornelius, wie er alle zum unermüdlichen Arbeiten antrieb. Cornelius und er als Kinder. Wie er mit Weiland und Marga ihn, Jerg, aus dem Turm geholt hatte, ohne zu wissen, warum er dort gelandet war. Und trotz des Tränenflusses hatte Jerg das Gefühl, als könne er endlich wieder durchatmen. Als bekäme er wieder genügend Luft zum Leben. Er fühlte sich auf eine fremde Art erleichtert und hatte sofort ein schlechtes Gewissen deswegen.
Nachdem es zunächst so ausgesehen hatte, als seien
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