Tod am Kanal
EINS
Leise drangen deutsche Schlager aus den Lautsprechern,
bis eine Männerstimme mit aufgesetzter Fröhlichkeit dazwischenfuhr und verkündete,
dass es kurz vor sieben Uhr sei an diesem wunderbaren Morgen und in wenigen
Minuten der Norddeutsche Rundfunk seine Hörer mit den neuesten Nachrichten aus
aller Welt beglücken werde.
»Komm, Maike, mach ein bisschen zu. Ich verstehe
nicht, weshalb du morgens nie in die Hufe kommst.« Renate Hauffe wich, ein
Tablett mit Frühstücksgeschirr balancierend, ihrer Tochter aus, die mit müden
Schritten ihren Weg von der Küche zum Esstisch im Wohnzimmer kreuzte. »Und du
bist auch ‘nen richtiger Morgenmuffel«, warf sie ihrem Mann zu, der am Fenster
stand und auf den Burggraben schaute. »Ich begreife nicht, warum ihr beide
jeden Morgen so rumtrödeln müsst.«
»Ja – ja«, brummte Wulf Hauffe zurück und starrte
weiter aus dem Fenster. Rechts waren durch die Stämme der majestätischen Bäume
die Treppengiebel der Häuser zu sehen, die den historischen Marktplatz
Friedrichstadts begrenzten. Von Osten her schien die kräftige Morgensonne auf
das Ensemble aus weißen Häusern, zwischen das sich ein Gebäude mit einer
Klinkerfassade gemogelt hatte. Selbst ein Maler mit ausgereiftem Sinn für
Romantik hätte das Farbenspiel nicht besser inszenieren können.
Hauffe liebte die Sicht aus seiner Wohnung am
Burggraben, der Gracht, die die Altstadt des Holländerstädtchens teilte. Vom
Wohnzimmer in der ersten Etage hatte man einen wunderbaren Ausblick auf den
Marktplatz, die Häuser und die Gracht, in deren stillem Wasser sich die
steinerne Rundbogenbrücke ebenso wie die großen Bäume spiegelte, die das grüne
Uferband säumten. Fast vor dem Haus führte eine hölzerne Fußgängerbrücke über
das Wasser, an dessen Ufer kleine Holzstege als Anlegestelle für Kanus und
Sportboote dienten.
Die sechzehnjährige Maike war ins Wohnzimmer getreten,
hatte sich ein Croissant aus dem Brötchenkorb gegriffen und biss im Stehen in
das Backwerk hinein.
»Setz dich hin. Es ist nicht gesund, im Vorbeilaufen
zu frühstücken«, mahnte ihre Mutter.
»Ich muss noch meine Haare machen«, antwortete das
hochgewachsene schlanke Mädchen. »Sag mal, müssen wir eigentlich immer diesen
Gruftisender hören? Das nervt, wenn man schon in aller Frühe diese Töne ins Ohr
geblasen bekommt.«
»Papa besteht auf seinen Nachrichten. Herrje noch mal
– sieh dir das an. Jetzt hast du das ganze Krümelzeug wieder auf dem Teppich
verteilt.«
Maike folgte dem Blick ihrer Mutter, die ärgerlich auf
die Krumen des Croissants schaute, die vor Maikes Füßen lagen.
»Nun pass auf, Mädchen, dass du das nicht auch noch
breit trittst«, schimpfte Renate Hauffe. »Was ist mit dir, Wulf, brauchst du
eine Extraeinladung?«
»Jaja«, antwortete ihr Mann und sah immer noch aus dem
Fenster.
»Von dir höre ich immer nur ›Jaja‹. Wollt ihr beide
mich verscheißern? Wenn euch das alles nicht passt, könnt ihr euren Mist
künftig alleine machen. Ich kann auch später in Ruhe mein Brötchen
essen.« Renate Hauffe drehte sich zu ihrer Tochter um. »Was ist nun? Soll ich
deinen Dreck auch noch wegwischen?«
Maike winkte lässig ab. »Ich muss los.« Das Mädchen
hängte sich einen MP 3-Player um
den Hals, stöpselte die beiden Ohrhörer ein, griff zu einem Rucksack, der in
der Ecke lag, und warf ein »Tschüss« in den Raum.
»Warum gehst du nicht mit deinem Vater zusammen?
Schließlich habt ihr den gleichen Weg.«
Maike deutete ihrer Mutter einen gehauchten Kuss an.
»Es ist schon blöd genug, dass mein Vater Lehrer an meiner Schule ist. Wie
sieht das aus, wenn ich mit meinem Alten zusammen zur Penne trotte?«
»Du sollst deinen Vater nicht immer ›Alter‹ nennen.
Das habe ich dir schon oft gesagt.«
Maike verschwand ohne ein weiteres Wort.
Renate trat neben ihren Mann ans Fenster. »Du bist
auch nicht besser als deine Tochter.«
Anstelle einer Antwort zeigte Wulf Hauffe zur Gracht
hinunter. »Siehst du das?«
»Was?« Sie sah zum Burggraben. Zwischen der
kopfsteingepflasterten Straße, in der sie wohnten, und dem Wasser fiel die Böschung
leicht ab. Auf dem Gras lag ein kleineres Motorboot, das mit einer Plane
abgedeckt war. Außer Maike, die jetzt auf der Straße erschien, sich eine
Zigarette anzündete und dann, ohne sich umzublicken, nach links aus dem
Sichtfeld verschwand, konnte Renate Hauffe nichts entdecken.
»Da drüben.« Ihr Mann streckte den Arm aus und wies
zur Gracht hinunter.
»Ich weiß
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