Die Silberdistel (German Edition)
er und der Pfarrer die einzigen Überlebenden aus Taben, war in den letzten Tagen doch noch fast ein halbes Dutzend Männer heimgekehrt. Wie Jerg und Weiland hatten auch sie sich vor den Soldaten versteckt gehalten, waren auf einsamen Wegen einzeln oder zu zweit marschiert, bis sie endlich Taben erreichten: Sophies Bräutigam, der Sohn des Müllers, und Oskar, Katharinas Mann, waren die ersten, die ankamen. Ohne viele Worte beschlossen Jerg und Weiland, Oskar keine Einzelheiten vom grauenvollen Tod seines Sohnes zu berichten, von dem er kurz vor der letzten Schlacht im riesigen Menschenfluß getrennt worden war. Trotzdem weinte der Mann hemmunglos wie ein Kind, als er erfuhr, daß Georg nicht mehr lebte. Er wollte sich gar nicht mehr beruhigen, bis Asa gerufen wurde und ihm das weiße Pulver ins Bier schüttete. Noch im Schlaf wimmerte er vor sich hin.
Das Elend umhüllte Taben wie ein Totenhemd, das hämisch am mageren Gerippe eines Verstorbenen schlottert. Zu der Trauer kam die Sorge um die nächste Ernte und vor allem die Angst vor den Soldaten, die ein Dorf nach dem anderen nach aufrührerischen Bauern durchkämmten.
Obwohl Jerg den Gedanken verdrängte, wußte er, daß ihm nicht mehr viel Zeit in Taben blieb: Als einer der Rädelsführer wurde er sicherlich schon im ganzen Land gesucht, und es war lediglich eine Frage der Zeit, bis die Soldaten nach Taben kamen. Wollte er seine Haut retten, blieb ihm nur die Flucht. Die würde um so schwerer sein, da er diesmal doch Marga und Find mitnehmen wollte. Lange konnte er sein Vorhaben nicht mehr aufschieben, doch zuvor wollte er noch gemeinsam mit Oskar einen großen Teil der Felder auflockern, um den angepflanzten Rüben Luft zu verschaffen. Schon am Vorabend hatten sie zwei schlechtgelaunte Bullen von der Weide geholt, denen nach langen Wochen der Rast weniger denn je der Sinn nach Arbeit stand. Danach wollte er bei Lene vorbeischauen, die nun mit ihren Kindern allein in Cornelius’ Hütte hauste. Jergs Widerstand war zu schwach gewesen, um sich gegen Margas Willen durchzusetzen, und so waren sie nicht zu Cornelius’ Witwe zurückgezogen, sondern letztendlich doch in Sureyas alter Hütte gelandet. Trotzdem sah es Jerg als seine Pflicht an, sich um Lene zu kümmern, mochte sie in der Vergangenheit auch noch soviel Böses gesagt und getan haben. Nach dem, was sie alle erlebt hatten, hatten viele Dinge keine Bedeutung mehr. Es war, als würden sich die Menschen ihre Empfindungen genau einteilen. Keiner hatte Gefühle für schlechte Erinnerungen oder nachtragende Gedanken übrig.
Obwohl es noch früher Morgen war, war weder von Marga noch von Find eine Spur zu sehen. Auf einmal packte Jerg eine fast unbeherrschbare Angst, auch diese beiden Menschen verloren zu haben. Ohne sich ein Hemd überzuziehen, riß er die Tür auf und rannte ins Freie. Als er die beiden amBrunnen stehen sah, ließ er sich zitternd an der Hauswand nieder. Er hätte vor Erleichterung heulen können.
Marga mußte Jergs Blicke im Rücken gespürt haben, denn sie drehte sich um und kam dann sofort zu ihm herüber. Wo er auch ging und stand – Marga bemühte sich, in seiner Nähe zu sein. Wie eine Rehkuh, die ihr schwaches und schutzloses Kitz immer mit einem Auge im Blick behält. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde ihn ihre Gegenwart, ihre Zuneigung erdrücken. Doch meist war er froh, sie in der Nähe zu haben. Ihren und Cornelius’ Verrat hatte er weit weg in eine dunkle, kalte Ecke seines Bewußtseins geschoben, wo er unbeachtet und ohne weiteren Schaden anzurichten verrottete. Irgendwann würden sie über Find und Cornelius sprechen. Irgendwann einmal, wenn der Gedanke an die, die er verloren hatte, nicht mehr schmerzte wie tausend Messerstiche.
Unter niedergeschlagenen Augenlidern musterte Marga ihn vorsichtig. War heute einer dieser Tage, an denen er in ein tiefes, schwarzes Loch fallen würde? Aus dem weder sie noch ein anderer Mensch ihn herausholen konnte?
»Was ist, Jerg? Du schaust so seltsam.« Beunruhigt folgte sie seinem Blick.
Unwirsch winkte Jerg ab. Er konnte seinen Blick nicht vom Brunnen abwenden, wo sich ein paar Kinder gegenseitig aus den Wassereimern bespritzten, die sie eigentlich nach Hause zu ihren Müttern tragen sollten. Lachend rannte Find einem kleinen, schwarzhaarigen Mädchen nach, dessen Kittel schon ganz dunkel vor Feuchtigkeit war. Einige seiner Haarlocken klebten an seiner verschwitzten Stirn, andere standen erdbeerfarben in die Höhe. Das
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