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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Handlungsstrang los, kam wieder etwas anderes, mutwillig Hinzugefügtes, wie er für sich urteilte. Irgendwann, für ihn nach einer Ewigkeit, sagte sie:
    »Da bin ich jetzt.«
    Seine Frage war erzwungen.
    »Und wie geht es weiter?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Der Jungverleger sah zu seinem Freund, dem Mann dieser Autorin, und wollte von dem den Satz hören: Das ist doch nicht dein Ernst? Aber in dessen Gesicht stand nur Verklärung, Bewunderung, Anbetung des Geheimnisses, der Rätselhaftigkeit.
    Die Frau des Freundes erklärte:
    »Ich weiß nie vorher, wie eine Geschichte weitergeht. Sie entwickelt sich.«
    »Also, auf die Gefahr hin, dass Sie mich jetzt für ich weiß nicht was halten, das ist für mich –«
    »– dilettantisch?«
    »Ja. Eine Erzählung, die nicht auf ihren Schluss hin geschrieben wird, ist für mich –«
    Sie unterbrach abermals.
    »Da bin ich für Sie die ganz und gar Falsche.«
    Sie wandte sich an ihren Mann, während sie die Manuskripte wieder zusammenräumte und in einer großen Tasche verstaute.
    »Ich habe dir gesagt, es hat keinen Sinn. Der Geschmack deines Freundes ist« – ihr Gesicht bekam etwas Hoheitsvolles – »sagen wir: sehr irdisch.«
    Sie wechselte den Ansprechpartner.
    »Ich habe ja in Ihrer preisgekrönten Reihe herumgelesen. Mich langweilt das alles tödlich. Aber ich danke jedenfalls für das Interesse.«
    Mit dem letzten Satz und einem eleganten stummen Gruß verließ sie das Lokal.
    Die beiden Männer sahen einander hilflos an. Der Barbesitzer versuchte zu erklären.
    »Du darfst das nicht falsch verstehen. Das ist alles nicht so gemeint, wie sie es sagt. Es ist nur die Enttäuschung, dass dir ihre Art zu schreiben nicht gefällt. Sie erträgt keine Niederlagen mehr, verstehst du das?«
    »Warum schreibt sie dann nichts Brauchbares? Ich kenne deine Geschichte, ich kenne ein wenig ihre Geschichte, aus beiden macht ein guter amerikanischer Erzähler je fünf Romane. Ich mute doch meinen Käufern nicht zu, von jeder Hausmauer zu erfahren, welche Grautöne sie zeigt und welche Ornamente die Risse im Putz ergeben und welche Welten sich hinter den Ornamenten … Das ist – sei mir nicht bös – alles auf Dichtung gequälte … Tut mir leid.«
    Den beiden gelang es in der Folge mit Mühe, das Gespräch auf andere Themen zu lenken. Die personelle Entscheidung für den nächsten Biennale-Teilnehmer empörte sie gleichermaßen.
    Dass das Urteil des Jungverlegers so hart ausgefallen war, nagte im Barbesitzer weiter. Als sie schon auf der Straße standen, um wieder auseinanderzugehen, sagte der:
    »Weil du das mit dem Grau der Hausmauern gesagt hast und mit den amerikanischen Erzählern, die schreiben doch von jedem Baum, an dem einer vorbeigeht, wie viele Blätter der hat und wie jedes einzelne in der Sonne glitzert.«
    »Das machen sie aber nicht, weil sie es für Dichtung halten, sondern weil ihr Agent einem Verlag fünfhundert Druckseiten versprochen hat. Das ist Seitenfüllung aufgrund ökonomischer Zwänge.«
    Der Barbesitzer mochte das nicht ganz glauben.
    Zwei Wochen später traf im Verlag in der Provinz ein Paket mit Manuskripten ein. Im Begleitbrief bat der Barbesitzer zu verstehen, er leide unter der Depression seiner Frau, er wolle daher noch einmal ersuchen, das Urteil über ihre Arbeiten zu überprüfen, er habe hinter ihrem Rücken die Manuskripte kopieren lassen, sie wisse von der Einsendung nichts. Durch einige sehr herzliche, sehr persönliche Wendungen am Ende des Schreibens fühlte sich der Jungverleger tatsächlich verpflichtet, noch einmal – gewissenhaft – zu lesen. Zumal ihm diese Szene in der Bar, wenngleich er sie ja nicht inszeniert hatte, im Nachhinein unangenehm war. Er war Geschworener bei einem Standgericht gewesen. Und zwar der einzige.
    Noch in derselben Nacht las er. Seine Politologin hatte er so neugierig gemacht, dass sie einiges mitlas. Irgendwann einmal sagte sie:
    »Schreiben kann die Frau.«
    »Bestreite ich ja nicht. Aber du wirst doch zugeben, das ist alles unüberprüfbarer Schwampf. Ich kann damit nichts anfangen.«
    »Schreiben kann sie.«
    Der Jungverleger wollte nicht wieder krass ablehnen, nicht verletzen. Er nahm sich vor, den nächsten Arbeitsbesuch in der Hauptstadt – eine Vertretertagung war geplant – zu einem persönlichen Gespräch zu nützen.
    Die Bar war übervoll. Ein Tanztheater feierte eine Premiere. Es war eine in jeder Hinsicht geschlossene Gesellschaft. Die Menschen sahen alle anders aus als die, die der

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