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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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mir absieht, dachte der Jungverleger. Man hätte das Lokal auch für einen gehobenen Hurentreff halten können, hätten nicht Bilder unbekannter Maler und Plakatankündigungen avantgardistischer Ereignisse auf ein anderes Stammpublikum schließen lassen.
    Zwei oder drei Tische waren besetzt, es war ja noch nicht spät, an dem einen Tisch wurde leise geplaudert, am anderen hörte man dem Mann zu, der Klavier spielte.
    Er war ein gut aussehender, dunkler Typ, vielleicht an die fünfzig, gewinnend, wie man schon an seiner Art, den hereinkommenden Gast durch Nicken zu begrüßen, bemerkte. Er war vor allem ein fabelhafter Pianist. Er spielte Paraphrasen klassischer Jazz-Standards mit höchstem technischen und harmonischen Anspruch, aber sichtlich mühelos.
    Der Jungverleger ließ sich an der Bar von einer weiter nicht auffälligen jungen Frau ein Glas Wein geben und hörte zu.
    Was man als
Crossover
bezeichnet, war die Domäne dieses Musikers. Er spielte etwa »Die Moldau« als Jazz-Ballade, dann wieder einen Standard wie »Feelings« als Chopin. Als er wahrnahm, dass zumindest die Gäste des einen Tisches das Stück wirklich für einen Chopin hielten, huschte eine kleine Verächtlichkeit über sein Gesicht und er machte Pause.
    Er kam zum Jungverleger an die Bar.
    »Freut mich, Sie begrüßen zu dürfen. Und meinen herzlichen Glückwunsch.«
    »Danke. Und wozu?«
    »Na, hören Sie! Sie haben doch einen Staatspreis bekommen für Ihre Bücher.«
    »Erstens, wieso wissen Sie das? Zweitens, wieso wissen Sie, dass ich ich bin?«
    »Ich bin zwar Musiker, aber kein Analphabet. Ich lese. Man sieht es mir vielleicht nicht an. Aber ich lese wirklich. Bücher. Auch solche Ihres Verlages. Und Ihr Foto war heute groß in der Zeitung. Ich merke mir Gesichter. Das bringt der Beruf so mit sich.«
    Er sagte das alles ohne Arroganz, freundlich und heiter, und erklärte auch der Besitzer, also Eigentümer oder Pächter dieses Ladens zu sein. Er sprach mit Akzent. Nach wenigen Worten stand fest, es war ein tschechischer Akzent, nahe dem schönen Prager Deutsch.
    »Bleiben Sie länger?«
    »Nein, nur bis morgen. Aber jetzt weiß ich wenigstens, wohin am Abend, wenn ich hier bin. Das wird in nächster Zeit öfter der Fall sein.«
    »Wird mich immer freuen.«
    Der Barbesitzer verlängerte sich einen Drink mit viel Soda. Der Jungverleger meinte, sich auch als Kenner ausweisen zu müssen.
    »Das letzte Stück, das war doch ›Feelings‹?«
    »Haben Sie bemerkt? Hab ich es nicht zu sehr misshandelt? Dann verstehen Sie ja etwas von Musik?«
    Die beiden Männer fanden zunehmend Gefallen an ihrem Dialog. Langsam füllte sich die Bar. Im Lauf des Abends immer mehr. Unter den jungen Gästen waren Musiker. Pianisten, auch solche, die zu ihrem Spiel sangen, besetzten den Flügel. Die Pausen des Pianisten im eigenen Lokal wurden immer länger, sein Gespräch mit dem Jungverleger immer intensiver. Denn dieser wollte, sein Interesse an guten Geschichten war geradezu manisch, genau erfahren, wie ein tschechischer Pianist, unüberhörbar der Meisterklasse, im Ausland zu einem Barbesitzer wird.
    Der Tscheche erzählte seine Geschichte. Und er erzählte sie gut. Zu Hause war er auf der Musikakademie unumstrittener Jungstar gewesen, die
große Hoffnung
, hatte als Solist schon mit ersten Orchestern konzertiert, aber dann war es zu einer Katastrophe gekommen, zu einer Prügelei aus politischen Motiven. Bei dieser Prügelei hatte er sich das rechte Handgelenk verletzt.
    »Es war geschwollen. Die Geschwulst ging nicht zurück. Und ich habe immer mehr den Verdacht gehabt, die behandeln mich absichtlich nicht optimal. Die Kommunisten haben den Ärzten gesagt, sie sollen meine Karriere vernichten, denn ich war politisch natürlich auf der Gegenseite. Möglich, dass es Paranoia war. Aber dagegen kann man ja nichts machen. Ich hatte keine Wahl. Ich musste fliehen. Ich musste Gewissheit haben. Und ich habe sie bekommen.«
    Er erzählte die Geschichte einer Flucht, wie sie abenteuerlicher nicht sein konnte. Dann kam er zur Pointe.
    »Hier hat mir ein Professor sofort gesagt, wenn ich mich nicht auf eine komplizierte Operation einlasse, werde ich nie mehr ordentlich Klavier spielen können, nämlich wirklich ordentlich, nicht so wie hier. Er hat mir die Versäumnisse der tschechischen Ärzte ganz genau erklärt. Ich werde jetzt bis zum Tod darüber nachdenken, ob es ein Kunstfehler war oder Absicht.«
    Dann erzählte er, dass er sich die Operation nicht hätte leisten

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