Die Söhne der Wölfin
in ihm stritten, nicht mehr zurückhalten. Er ließ den Kamm fallen. Tränen stiegen in seine Augen, und alles vor ihm verschwamm, während er hörte, wie Ilian den Atem einsog. Dann spürte er ihre Hände auf seinem Gesicht.
»Ulsna«, sagte sie beschwörend. »Ulsna, es tut mir leid. Es ist nicht so, daß ich dich nicht bei mir haben will. Wir sind Freunde, und du bist der einzige, der mich nie ausgenutzt hat. Daran bin ich nicht gewöhnt, und deswegen habe ich Angst, daß ich dich eines Tages ausnutzen werde. Ich dachte, du könntest hier in Korinth glücklich sein, als Barde der großen Familien.«
»Ich wäre allein«, erwiderte er. »Ich glaube, ich ertrage es nicht mehr, allein zu sein, Ilian.«
Sie seufzte, und er spürte, wie ihre Finger die Tränen, die an seinen Wimpern hingen, fortwischten.
»Dann laß uns gemeinsam weiterreisen.«
Die Gesandtschaft bestand aus fünf starren Verkörperungen männlicher Mißbilligung, als Arion ihr Ilian zuführte. Er hatte ihnen geschworen, daß es sich bei ihr um eine Priesterin handelte, doch er wußte, daß sie sein Wort zumindest stark anzweifelten. Deswegen war er erleichtert, daß Prokne Ilian mit ihrem unauffälligsten, längsten Kleid und einem großen Umhang ausgestattet hatte. Er fragte sich nur, welchen Gefallen sie eines Tages dafür von ihm verlangen würde. Prokne hatte sich wirklich länger gastfreundlich zu seiner Priesterin verhalten, als er es erwarten konnte; es mußte doch mehr von ihrem großzügigen Vetter in ihr stecken, als sich auf den ersten Blick erkennen ließ.
Sein Versprechen an Poseidon zu erfüllen und Ilian sicher auf den Weg nach Delphi zu schicken bereitete ihm gemischte Gefühle. Er mußte zugeben, daß er sich vorgestellt hatte, vorher zumindest einmal gekostet zu haben, womit sie ihn die ganze Überfahrt lang gereizt hatte. Doch als es soweit war und er bei Prokne mit Ilian und dem Jungen speiste, sprach sie Prokne gegenüber in so hohen Tönen von seiner Ehrlichkeit, von seinem Edelmut, und das alles begleitet von Proknes unverhohlen ungläubigen Blicken, daß ihm eine offene Forderung nach einer weiteren Gegenleistung für seine Hilfe billig erschienen wäre. Immerhin gönnte er sich zum letzten Mal das Vergnügen, Ilian essen zu sehen. Er hatte es ihr nie gesagt, aber eine Frau, mit der man nicht verwandt war, tat dergleichen eigentlich nur als Vorspiel.
Unwillkürlich stellte er fest, daß Prokne die Zeit genutzt und einen guten Einfluß auf sie ausgeübt hatte. An Bord seines Schiffes hatte Ilian das, was es zu essen gab, mit einer lustlosen Miene zerkaut; dagegen war die Art, wie sie jetzt eine Olive in sich hineinsog, wirklich bemerkenswert.
Letztendlich, sagte er sich, mußte es auch eine Frau geben, die man nicht gehabt hatte, damit man sich die Vorstellungen hinsichtlich ihrer Fähigkeiten erhalten konnte. Wenn Ilian Korinth verließ, würde er sie wahrscheinlich nicht wiedersehen, und im Laufe der Zeit würde sie ihm mehr und mehr wie ein Wesen aus einer Geschichte vorkommen, eine Gesandte der Götter, die ihm Glück gebracht hatte und dann wieder in den Olymp entschwunden war. Der Gedanke sprach den Träumer in ihm an. Wenn er ihre Bekanntschaft damit beendete, daß er mit ihr schlief, würde sie nur eine weitere Frau für ihn sein und ihre Magie verloren haben.
Außerdem, auch wenn er es ungern eingestand, nagten immer noch ihre Worte über Vertrauen an ihm. Wenn sie erst auf dem Weg nach Delphi war, würde sie sehen, daß sie ihn unterschätzt hatte, und mit Bedauern und guten Wünschen an ihn zurückdenken. Das war der Aussicht auf einen Fluch allemal vorzuziehen, und er hegte immer noch einen gewissen Respekt vor ihren Kräften.
Er wußte nicht, ob er es rührend oder töricht fand, daß der kleine Barde bei seinem Fest nicht die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich einen reichen Gönner gesucht hatte, sondern darauf bestand, Ilian zu begleiten. Der Junge hatte eine wirklich schöne Stimme, und sein Griechisch war viel besser geworden, doch wandernde Barden lebten von der Hand in den Mund. Was auch immer aus Ilian wurde, er bezweifelte, daß Ulsna zu den Überlebenden dieser Welt zählte.
»Leb wohl, Arion aus Korinth«, sagte Ilian zu ihm, als er sie auf den Esel gesetzt hatte, dessen Herkunft ihm nach wie vor unklar war. Von ihm stammte das Tier nicht, Ilian konnte kaum noch Besitztümer gehabt haben, gegen die sie ihn hätte eintauschen können, der Junge schon gar nicht, und welche schlummernde
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