Die Söhne der Wölfin
meinen Zweck zu erfüllen, muß ich alle Waffen benutzen, die mir die Götter mitgegeben haben. Alle.«
»Ich nehme an, du darfst mir diesen hohen Zweck nicht verraten.«
»Nein.«
Entweder ist sie verrückt, dachte Prokne, oder tatsächlich von den Göttern berührt. Auf jeden Fall stimmte etwas mit ihr ganz und gar nicht. Andererseits ergab ein Teil dessen, was sie sagte, durchaus Sinn. Eine Frau, die nicht von ihrer Familie oder ihrem Mann beschützt wurde, mußte nutzen, was die Götter ihr mitgegeben hatten, um in dieser Welt zu überleben. Dazu bedurfte es keines höheren Zwecks.
Kritisch musterte sie Ilian. Die Grundlagen waren nicht schlecht, doch das Mädchen konnte noch einiges mehr aus sich machen. Angefangen bei ihrer Angewohnheit, die Arme vor der Brust zu verschränken. So etwas wirkte abweisend.
»Ich weiß natürlich, daß du keine Jungfrau mehr bist, aber hast du abgesehen davon überhaupt irgendwelche Erfahrungen? Hast du es verstanden, Vergnügen zu bereiten?«
Fasziniert beobachtete sie, wie die kalte Maske schmolz und erneut die unsichere Ilian, die vorhin errötet war, freigab.
»Ich... ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich glaube schon.«
»So etwas glaubt man nicht, so etwas weiß man«, stellte Prokne kopfschüttelnd fest.
»Und woran merkt man es?« stieß Ilian wütend hervor. »Wenn sie mehr wollen, egal, wie müde man ist, oder wenn sie sich damit anlügen lassen, ist das dann ein gutes Zeichen?«
»Grundgütiger«, sagte Prokne, der jetzt einiges klar wurde. »Du warst verheiratet.«
Ilian wandte sich ab. »Es tut mir leid, daß ich gefragt habe«, entgegnete sie mit erstickter Stimme. »Laß uns dieses Gespräch vergessen.«
»Aber ganz im Gegenteil«, versetzte Prokne. »Jetzt weiß ich, daß ich dir helfen muß.«
Für Ulsna verhärtete sich das Mißtrauen gegen Prokne in eine feste Abneigung, als Ilian begann, mehr und mehr Zeit mit ihr zu verbringen, ohne daß seine Gesellschaft erwünscht war. Vielleicht lag es nur daran, daß er nicht mehr daran gewöhnt war, allein zu sein. Er streifte durch das fremde Korinth mit seinen würfelförmigen Häusern, die ihm alle abweisend und feindselig erschienen, sah in dem Gymnasion zu, wie die Männer sich ertüchtigten, bis er selbst zum Mitmachen aufgefordert wurde und floh, hörte sich das Geschwätz auf den Marktplätzen an und suchte nach guten Geschichten, um zumindest seinen Vortragsschatz zu erweitern. Es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde. Auf dem größten Platz, der Agora, standen vergoldete Holzstatuen mit roten Gesichtern, und als er sich danach erkundigte, erzählte man ihm, sie stünden hier auf Geheiß des Orakels von Delphi, als Buße für Pentheus, einen König früherer Zeiten, den man ohne seine Einwilligung geopfert habe. Nicht weit entfernt, neben einem der zahlreichen Brunnen Korinths, stand das Bild einer Frau mit verzerrten Zügen, und man berichtete ihm, es sei eine weitere Buße auf Geheiß des Orakels, in Gestalt von Deima , dem Schrecken, und zwar für den Tod der Kinder der Zauberin Medea, die von den Korinthern gesteinigt worden seien. Er erkundigte sich nach dem Grund für die Bänder, die von den allgegenwärtigen Kiefern hingen, und hörte, sie seien eine Erinnerung an den Räuber Sinis, der diese Bäume abwärts gebogen, seine Opfer an sie gebunden und sie dann wieder habe hochschnellen lassen. Bald erschien Ulsna das gesamte Korinth als von Schrecken heimgesucht.
Als Arion ihn endlich einlud, für ihn zu singen, war er überglücklich und erleichtert. Und obwohl er sich dafür schämte, war er insgeheim sogar erfreut darüber, daß Ilian nicht eingeladen worden war. Er brauchte allerdings nicht lange, um zu begreifen, warum nicht. Auf der Feier waren nirgendwo Frauen zu sehen, selbst Arions eigene Gemahlin fehlte. Als er sich bei einem der Lautenspieler nach ihr erkundigte, bekam er entrüstet zu hören, niemals würde sich eine anständige Frau an einem öffentlichen Gelage beteiligen. Er begann zu verstehen, was Prokne gemeint hatte, als sie sagte, niemand würde hier freiwillig eine Frau sein wollen. Auf den Straßen waren ihm außer den gelegentlichen Dirnen nur Bäuerinnen und Sklavinnen begegnet, die den Blick streng auf den Boden gerichtet hielten. Anscheinend verbrachten die Frauen von Korinth den größten Teil ihres Daseins in ihren Häusern. Er fühlte sich an eingesperrte Vögel erinnert und beschloß, auf jeden Fall weiter als Mann zu gelten.
Das fiel ihm nicht immer
Weitere Kostenlose Bücher