Die Söhne der Wölfin
hatte stets eine vielversprechende Mischung aus gesundem Menschenverstand und Intuition gezeigt. Sie war wißbegierig, sie begriff rasch, und es gab Anzeichen, daß sie die Blitze nicht nur deuten, sondern auch herbeirufen konnte. Von ihr waren keine Proteste über die Notwendigkeit eines Königsopfers laut geworden, und wenn sie die Machtübernahme durch ihren Onkel übelnahm, dann war sie zu klug, um es auszusprechen. Alles in allem berechtigte sie zu den schönsten Hoffnungen, und Fasti hatte geplant, sie im nächsten Winter, wenn ihr fünfjähriges Noviziat beendet wäre, zu ihrer Nachfolgerin auszubilden. Es stand nicht zu erwarten, daß Arnth protestieren würde. Eine Priesterin durfte niemals heiraten, und solange es keinen Ehemann für Ilian gab, der in ihrem Namen Anspruch auf den Thron von Alba erheben konnte, würde sie ihm nicht gefährlich sein.
All das machte Ilians Verhalten um so unbegreiflicher. Die Jungfräulichkeit einer Novizin war heilig, denn sie diente dem Aspekt der Göttin, der Jungfrau war. Erst die Priesterinnen, die Turan der Gebenden huldigten, der Mutter allen Lebens, hatten das Recht, sich einem Mann hinzugeben, und sie taten es nur, wie die Göttin es wünschte.
»Du bist...«, begann Fasti, dann hörte sie, daß ihre Stimme rauh klang, und hielt einen Moment lang inne, bis sie sicher sein konnte, ihre übliche kühle Gelassenheit wiedererlangt zu haben, »du bist nicht vergewaltigt worden?«
Schon als sie dies sagte, wußte sie, daß es eine Feststellung war, keine Frage. Eine Priesterin zu vergewaltigen war ein solch ungeheuerliches Vergehen und zog eine so grausame Strafe nach sich, daß es höchstens einmal in drei Generationen vorkam. Überdies hätte Ilian in einem solchen Fall nichts daran gehindert, es Fasti sofort zu berichten und dafür zu sorgen, daß der Schuldige bestraft würde.
»Nein«, entgegnete Ilian. Sie schaute zu dem Altar hinter Fasti, auf dem ein Abbild der geflügelten Turan stand. »Aber ich hatte auch keinen Liebhaber«, fügte sie mit einem Anflug von Trotz hinzu, der Fasti daran erinnerte, daß Ilian bei aller Schulung noch sehr jung war, zweimal sieben Jahre erst. Dann trat sie einen Schritt näher, löste sich aus dem Lichtfleck am Eingang und fuhr fort, ohne den Altar aus den Augen zu lassen: »Es ist das Kind eines Gottes, und die Göttin selbst hat es gebilligt.«
Diesmal versuchte Fasti nicht einmal, ihre Reaktion zu unterdrücken. Sie ging zu Ilian und schlug ihr, ohne zu zögern, ins Gesicht, zweimal, einmal mit der Handfläche, dann, weit ausholend, mit dem Handrücken. Ilian keuchte unwillkürlich auf, aber sie machte keine Anstalten, sich zu schützen, was einiges an Selbstbeherrschung erforderte. Sie überragte Fasti bereits, doch Ilians schlanke Gestalt hatte noch etwas Weiches, Unfertiges, während die muskulöse, untersetzte Fasti über die Zähigkeit und Härte einer Bäuerin verfügte. Einen Moment lang wünschte sich Fasti, das Mädchen umbringen zu können, und wußte gleichzeitig, daß sie es nie fertigbrächte.
Nicht einmal einen Herzschlag lang zog sie in Erwägung, daß Ilian die Wahrheit sagen könnte. Im Gegenteil, nun war ihr alles klar. Sie hatte nicht einfach eine leichtsinnige Novizin vor sich, die ihre Zukunft für ein paar süße Worte eines unbekannten Verführers fortgeworfen hatte und die nun Zuflucht in einer blasphemischen Ausrede suchte. Nein, es war viel gefährlicher. Wenn Ilian öffentlich behauptete, das Kind eines Gottes in sich zu tragen, dann würde ein Teil der Bevölkerung ihr Glauben schenken, statt sie als gefallene Priesterin zu verachten. Der Trotz ihres Vaters gegen den Willen der Götter wäre dann vergeben und seine Erblinie wieder gültig. Ilians Kind, ob Mädchen oder Junge, hätte nicht nur Anspruch auf den Thron, nein, seine halbgöttliche Herkunft würde es auch jedem Sprößling Arnths überlegen machen. Und da Arnth bisher so sorgfältig darauf geachtet hatte, keinen seiner Blutsverwandten zu töten, stand nicht zu erwarten, daß er jetzt bei einer schwangeren Frau den Anfang machen würde. Selbst die trächtige Häsin war unantastbar. Seine Nichte in ihrem augenblicklichen Zustand zu töten wäre selbst dann ein Sakrileg, wenn sie nicht der Göttin geweiht wäre.
Zumindest hatte Fasti sich nicht in Ilian getäuscht, was ihren Verstand anging. Beinahe mischte sich widerwillige Bewunderung in den Zorn, der sie nun ganz und gar erfüllte.
»Du wirst uns nicht in einen Krieg mit dem König
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