Die Somalia-Doktrin (German Edition)
gehörte es ihm ebenso wie der Rest des Krankenhauses. Er sah sich den Mann von Kopf bis Fuß an und schnaubte.
»Was zum Teufel ist denn mit dem passiert?«, fragte er. »Habt ihr den überfahren?«
»Wir doch nicht«, meinte Jim. Er sah sich um. Nasir hatte sich etwas abgesetzt und unterhielt sich leise mit dem Arzt. Jim wandte sich wieder an Harry. »Wir haben ihn in dem Zustand gefunden.«
Harry beugte sich über den Mann auf dem Bett und musterte sein blutverkrustetes Gesicht. Irgendetwas an dem Hünen schien Jim vertraut, aber er hätte nicht sagen können, was es war.
»Haben Sie was an ihm gefunden?«, sagte Harry, der die Taschen des Verletzten durchging.
»Nicht viel.«
»Nicht viel oder gar nichts.«
»Gar nichts.«
Es waren Harrys Augen. Er hatte sie schon mal gesehen: dunkel, drohend, misstrauisch, kalt. Aber wo?
»Ein Jammer«, sagte Harry kopfschüttelnd, wenn auch nicht zu Jim.
»Wie meinen?«
»Ich sagte, was für ein Jammer, so zu enden.« Er warf Jim über die Schulter einen Blick zu. »Sie haben ihn also einfach so gefunden, allein, mitten in der Wüste.«
»Habe ich doch gerade gesagt.«
»Sie haben keine Ahnung, wer er ist.«
»Nee. Und Sie?«
»Nie gesehen.«
»Er trägt ein UA-T-Shirt.«
»Das sehe ich«, sagte Harry bissig.
Der Verletzte schlug die Augen auf und schloss sie wieder. Er versuchte etwas zu sagen, aber alles, was er hervorbrachte, war ein langes verzweifeltes Stöhnen, bei dem Jim ein Schauer über den Rücken lief.
Harry wandte sich an den Arzt. »Flicken Sie ihn zusammen. Wir fliegen ihn ins Krankenhaus nach Nairobi.«
Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sie ohne ein Abschiedswort stehen. Jim sah erst Nasir an, dann den Arzt. Sie schienen erleichtert, Harry gehen zu sehen. Die Schwestern eilten wieder an die Seite des Verletzten.
»Also ich weiß nicht, ob ich den mag«, sagte Jim.
Nasir schob sich die verrutschte Brille die Nase hoch.
Jim wandte sich an den Arzt. »Meinen Sie, er schafft es?«
»Vielleicht«, sagte der Arzt. »Lebenswichtige Organe hat es keine erwischt. Wir geben ihm eine Bluttransfusion aus UA-Beständen und fliegen ihn sobald als möglich hier raus. Und jetzt zeigen Sie mal Ihren Kopf.«
Die Verletzung an seinem Kopf hatte Jim ganz vergessen. Der Arzt nahm ihn zur Seite und reinigte die Wunde mit antiseptischen Tüchern.
»Das wird schon wieder«, sagte der Arzt. »Den hier hat’s schlimmer erwischt. Muss ja ganz schön gekracht haben.«
»Gekracht? Der hatte keinen Unfall. Sieht aus, als wäre er meilenweit barfuß gelaufen.«
»Ich weiß nicht. Sieht mir nach einem Unfall aus. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, die Patienten brauchen ihre Ruhe.«
Jim trat aus dem Krankenhaus und starrte zum Nachthimmel hinauf. Die Sterne strahlten wie kleine Diamanten auf pechschwarzem Samt. Nicht eine Wolke war zu sehen. Ein kleines Tier huschte ihm über die Stiefel und verkroch sich unter einem Häufchen Steine. Mit einem Kribbeln der Aufregung und Besorgnis zugleich nahm er einen tiefen Zug von der kühlen Luft. Er fand es aufregend, hier zu sein, in einem neuen Land, im Außendienst, machte sich aber seine Gedanken darüber, was ihn hier wohl erwartete, zu schweigen von der Warnung des armen Kerls.
Als er sich umsah, hätte ihm schier das Herz ausgesetzt.
Gegen eine brüchige Steinmauer gelehnt, stand Harry, eine Zigarette rauchend, und sah ihn mit stechenden Augen an.
Kapitel 3
Distrikt Togdheer, Somaliland
16. September 2003
Fabienne hatte während ihrer langen Laufbahn als Entwicklungshelferin in Afrika schon Schlimmes erlebt. Nichts jedoch, absolut nichts hatte sie auf das vorbereitet, was ihr an diesem Tag bevorstand.
Der Konvoi von Universal Action bewegte sich rumpelnd auf das IDP-Lager zu. Er hinterließ eine ockerfarbene Staubwolke, die im Licht des Spätnachmittags funkelte. Auf dem Beifahrersitz des ersten Trucks saß Fabienne, aus dem offenen Fenster gelehnt, und warf einen Blick zurück auf die gewundene Fahrzeugkolonne hinter ihr; mit dem ihren waren es zehn Lkw, deren große Reifen knirschend durch den Wüstensand fuhren. Sie griff nach dem Walkie-Talkie am Armaturenbrett.
»Okay, jeder weiß, was er zu tun hat. Die Nahrungsmittelausgabe kommt in Block B2. Das ist im Nordwestabschnitt. Die Leute vor Ort erwarten uns. Sorgt dafür, dass Frauen und Kinder ihren gerechten Anteil bekommen. Ich will nicht, dass die Männer sich alles krallen.«
Mit der Rückseite ihres schmutzigen
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