Die Somalia-Doktrin (German Edition)
Ärmels wischte Fabienne sich den strömenden Schweiß von der Stirn und schob eine einzelne Strähne ihres langen grauen Haars zurück hinters Ohr. Sie hatten einige harte Wochen hinter sich: die Fahrt durch Somaliland, die Sicherheit des Nahrungsmittelkonvois. Sie seufzte.
»Was ist denn?«, fragte ihr Fahrer.
»Ach, Andrew, ich hab einfach nur das Gefühl, mir wird das alles zu viel.«
»Ja, ich weiß, was du meinst. Die Milizen reißen sich ja doch wieder alles unter den Nagel. Das schafft einen irgendwann.«
»Dich auch? So jung und schon so zynisch wie wir Alten?«
»Zynisch? Weiß nicht, Fab, nicht unbedingt. Realistisch, würd ich sagen.« Er sah sie mit seinen ernsten braunen Augen an und rieb sich das kahle Haupt. »Ich meine, man braucht sich doch nur umzuschauen. Ist doch ein Fass ohne Boden. Je mehr Hilfe wir reinschütten, desto schlimmer wird alles.«
Fabienne antwortete nicht. Sie war die Hilfsdebatte so was von leid. Jeder in seinen eigenen Gedanken versunken, fuhren sie schweigend weiter. Das Camp rückte langsam näher. Fabienne sah die endlosen Reihen Tausender provisorischer Hütten, deren Kuppeldächer in der Hitze schimmerten wie eine Fata Morgana. Die Flaggen von Universal Action am Eingang hingen von ihren Masten, als wären sie zu müde zum Salutieren.
»Wer ist denn auf die Idee gekommen, hier am Arsch der Welt ein IDP-Camp hinzustellen?«
»Harry. Seiner Ansicht nach ist es sicherer, sie hier und da auf dem Land zu haben als alle rund um Hargeysa.«
»Also ich bin da anderer Meinung. Das macht die Hilfslieferungen doch zum Alptraum.«
Andrew spähte mit zusammengekniffenen Augen in den nachmittäglichen Dunst.
»Was ist?«, fragte sie.
»Irgendwas stimmt da nicht. Als ich das letzte Mal hier war, hat sich doch wenigstens was gerührt.«
Fabienne folgte seinem Blick. »Du hast Recht. Merkwürdig. Hier sollten doch 20000 Leute sein.« Sie nahm einmal mehr das Walkie-Talkie zur Hand. »Okay, Leute, haltet mal an. Das Lager sieht verlassen aus. Andrew und ich, wir gehen erst mal alleine rein. Wartet auf unser Signal.«
Andrew nahm den Fuß vom Gas.
»Was machst du?«, fragte Fabienne. »Wir zwei gehen da rein.«
»Schon, aber sollten wir uns nicht ans Procedere für einen Hinterhalt halten? Situation erkennen, beobachten und all den Kram?«
»Keine Bange. Uns passiert schon nichts.«
»Was ist, wenn wir alle zusammen reinfahren? Ich meine, liegt die Stärke nicht in der Zahl?«
»Ich sag doch, keine Bange, Herrgott noch mal. Fahr schon zu!«
Achselzuckend gab Andrew Gas. Mit einem Ruck setzte der Truck sich wieder in Bewegung und gewann an Fahrt. Sie fuhren durch den Haupteingang ins Lager, der zu beiden Seiten von Stacheldrahtrollen gesäumt war. Viele der Kuppelhütten standen kurz vor dem Einsturz, die Holzrahmen zerschlagen, ihre Hülle hing herab oder lag daneben im Dreck. Fetzen von Persenning hatten sich im Gesträuch neben Haufen von Unrat verfangen und bewegten sich in der leichten Brise. Um die Überreste abgebrannter Feuer lagen Töpfe und Pfannen verstreut. Kadaver toter Ziegen verfaulten in der Sonne; Insekten labten sich an glasigen Augen und vertrocknetem Gedärm.
»Was zum Teufel ist hier passiert?« In dem Versuch, den Gestank nicht einzuatmen, hielt Fabienne sich eine Hand vor Nase und Mund.
»Fahren wir weiter rein.«
»Ist das ratsam?«
»Sieht mir nicht nach einem Hinterhalt aus. Ist ja niemand hier.«
»Sag ich doch! Hinterhalt bedeutet normalerweise, dass sich einer versteckt.«
»Hör mal, fahr einfach weiter, ja?« Fabienne schüttelte entrüstet den Kopf. »Es wird schon nichts passieren.«
Wieder zuckte Andrew die Achseln. Sie fuhren ein Stück weiter in das Lager hinein.
»Wie wär’s mit hier?«, fragte Andrew. »Wo uns der Rest des Konvois noch sieht.«
Fabienne nickte seufzend. Andrew trat auf die Bremse. Beide traten sie die ächzenden Türen auf und sprangen hinaus. Erde und Kiesel knirschten unter ihren Schuhen. Sie nahmen die nächst gelegenen Hütten in Augenschein. Sie waren nach der traditionellen Struktur aller Nomadenhütten errichtet: im Halbkreis aufgestellte Stäbe, die mit Persenning, Pappe, Lumpen und Plastiktüten bedeckt waren. Sie waren leer: die Schlafmatten lagen verlassen da, die Kochutensilien hingen an den Wänden oder waren verstreut.
»Wo sind die alle hin?«, fragte Andrew.
»Keine Ahnung. Sieht ganz so aus, als hätte man es eilig gehabt.«
Auf der Suche nach Anhaltspunkten gingen sie tiefer ins Lager
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