Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
Vom Netzwerk:
Version?«
    »Interessiert doch keinen.«
    Der Captain lachte und begann, durch den Raum zu wandern.
    Ich fühlte mich wie ein Haufen Dreck, und an Tagen, wenn die Erinnerung aufklart, geht mir das heute noch so, wenn ein Reh in der Senke hinter meiner Hütte zur Tränke geht, wenn ich mein Gewehr hole, um das Tier zu schießen, und dann zum hundertsten Mal nur zitternd dasitze, und dann kommt die Sonne heraus, und mir wird bewusst, dass ich nichts mehr riechen kann, weder verbranntes Pulver noch brennendes Metall, weder die stinkenden Abgase noch das Lammfleisch oder den ekelhaften Geruch der Fäkalien im knietiefen Tigris, den wir damals durchwateten. Dann denke ich, dass es vielleicht meine Schuld war, dass ich es getan habe, Scheiße, nein, so war es nicht, jedenfalls nicht genau so, aber woher soll man das wissen, denn die Erinnerungen sind zur Hälfte reine Phantasie.
    Der Captain wollte mir nicht alles erzählen, sprach nur von einem Vorfall. Zivilisten seien getötet worden und so weiter. Sterling hatte sich verabschiedet, bevor die Angelegenheit hohe Tiere auf den Plan hatte rufen können, die sich einbildeten, irgendjemanden hart rannehmen zu müssen, um zu beweisen, dass die vielen jungen Männer, die mit einer Waffe in der Hand die Ebenen fast aller Länder dieser Erde unsicher machten, zur Verantwortung gezogen wurden. Sterling konnte man nicht mehr zur Verantwortung ziehen, weil er sich für immer aus dem Staub gemacht hatte.
    Ein Gerücht also hatte den Captain hierhergeführt, die unterschwellige Wahrheit einer Geschichte, an die sich die meisten nur noch bruchstückhaft erinnerten. Ein oder zwei Soldaten hatten vermutlich erzählt, was sie gern für die Wahrheit gehalten hätten, andere hatten vielleicht versucht, die naheliegenden Bedürfnisse einer Mutter zu befriedigen, die als Folge jenes Tages in Al Tafar, der, so kommt es mir manchmal vor, eine Ewigkeit her ist, sowohl bemitleidet als auch beschimpft worden war.
    Wenn ich heute über Sergeant Sterling nachdenke, wird mir klar, dass er keiner jener Menschen war, für die die Existenz anderer nur eine unbegreifliche Abstraktion darstellt. Er war kein Soziopath, niemand, der nur an sich selbst denkt oder die Leben anderer als Schatten vor einem schwacherhellten Fenster wahrnimmt. Man hatte ihm wahrscheinlich eine Frage gestellt, die er so gewissenhaft wie möglich beantwortet hatte, ohne daran zu denken, dass die Lücken, die er ließ, von den Personen, die die Frage formuliert hatten, nach Belieben ausgefüllt werden konnten.
    Ich glaube weiter an Sterling, weil mein Herz noch schlägt. Wenn man um seinetwillen lügt, ist das eine Bekräftigung des Lebenswillens. Was geht mich heute noch die Wahrheit an? Und Sterling? Er gab keinen Pfifferling für sich selbst – das ist die Wahrheit. Wahrscheinlich ahnte er nicht einmal, dass ihm eigene Sehnsüchte und Vorlieben erlaubt waren; dass er eine Lieblingsstelle hätte haben, zufrieden über die langen, schnurgeraden Straßen des jeweiligen Standorts hätte schlendern und den Rasen hätte genießen dürfen, der sich eintönig grün und sauber gemäht unter einem blauen, endlos weiten Himmel erstreckte; dass er sich an das Ufer eines klaren, kalten Flusses hätte legen, die Haut seines von Narben übersäten Körpers vom flachen Wasser hätte umspülen lassen können. Wie seine Lieblingsstelle ausgesehen hätte, weiß ich nicht, zumal er sich eine solche bestimmt versagt hätte. Er hätte darauf gewartet, dass man ihm eine zuteilte; das hätte seinem Wesen entsprochen. Sein vollkommen unerhebliches Dasein glich einem Flugkörper im All, dessen Existenz nur im Zusammenhang mit dem Planeten wahrgenommen wird, den er umkreist. Sterling hatte immer nur getan, was von ihm erwartet worden war. Er hatte nur ein einziges Mal auf sich gehört, nur ein Mal aus Eigennutz gehandelt, und das war der letzte Akt seines kurzen und chaotischen Lebens gewesen.
    Nachdem der Captain das Wort »Vorfall« ausgesprochen hatte, schloss ich die Augen und sah Sergeant Sterling auf einer Bergflanke. Sah das Gewehr, dessen Mündung in seinem Mund steckte. Sah, wie er in jenem undenkbaren Moment erschlaffte, als die Kugel seinen Schädel durchschlug. Sah, wie sein Körper noch einige Meter den Berg hinabrutschte, wie seine abgelaufenen Stiefelsohlen zwischen Piniennadeln zur Ruhe kamen. Dann öffnete ich die Augen wieder.
    »Darum geht es also?«, fragte ich.
    Er trat neben mich, legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich sah, wie

Weitere Kostenlose Bücher