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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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war kein Held, kein Aushängeschild. Ich konnte froh sein, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Dafür hätte ich alles gegeben, und genau darin bestand meine Feigheit. Dafür hätte ich, ohne zu zögern, jede Schuld auf mich geladen, obwohl ich wusste, dass ich sie irgendwann würde begleichen müssen – nur nicht jetzt, bitte nicht gleich, bitte erst später.
    Doch als es so weit war, kam es mir ganz einfach vor. Ein Schalter wurde umgelegt. Meine Schulden waren fällig. Ich erinnere mich an den weißen Himmel und den Nebel über dem James River, an den für Virginia ungewöhnlich frühen Schnee. Die Flocken fielen in endloser Wiederholung durch den Schleier meiner spärlichen Erinnerungen, sie fielen auf die Hotels und leeren Tabakspeicher, und die Leerstellen in meinem Gedächtnis schienen sich immer mehr auszuweiten, während der Schnee unaufhörlich auf den Fluss rieselte, aus den tiefhängenden Wolken eines Himmels fiel, der bis in alle Ewigkeit weiß und unbefleckt zu sein versprach.
    Seitdem ich Al Tafar verlassen hatte, war jeder Augenblick einmal auf den Kopf gestellt, aus der Folge der Ereignisse gelöst worden, doch der Tag, an dem es so weit war, kam mir vor wie jeder andere. Als der Schneefall einsetzte, streckte ich meine Hände aus dem Fenster, sah zu, wie die Flocken auf der Haut schmolzen, sah, wie die Felsen im Fluss von einer glänzenden Schicht überzogen wurden, sah das Auto, ein grauer Mercury, auf der von unbelaubten Platanen und Hartriegelbäumen gesäumten Straße auf mich zukommen. Ein Mann stieg aus, und als er die Autotür schloss, blitzten silberne Schulterstücke im Licht.
    Wenn ich jetzt daran denke – und die Erinnerung daran, wie er die Straße hinaufkam, einen Fuß vor den anderen setzte, läuft in Endlosschleife vor meinem geistigen Auge ab –, scheint mir, dass ich den Schnee um Einhalt hätte bitten müssen, weil ich eine Atempause brauchte, bevor ich den Konsequenzen meiner Taten ins Auge sah. Das Feuer der Zeit brannte in meinem Inneren, und dort brennt es heute noch.
    Kurz darauf klopfte es an der Tür. Ich schämte mich für mich selbst, als ich öffnete, denn ich war unrasiert, meine Wohnung verwahrlost, mein Leben schal. Ich hatte es immer wieder als Erleichterung empfunden, aufgeben, vergessen, warten zu können. Worauf? Keine Ahnung. Der Captain trat ein, ein Riese in der Leere meines Daseins. Ich trug trotz der Kälte nur Boxershorts und ein ärmelloses, schmutziges Unterhemd. Der Schnee verdeckte das Fenster, als hätte man ein Tuch davorgehängt. Eine dünne Wolldecke lag auf meinen Schultern, und ich stank, denn ich hatte seit Wochen keinen nüchternen Atemzug mehr getan.
    »John?«, fragte er leise.
    »Jawohl, Sir.«
    »Ich bin Captain Anderson von der CID .« Er legte die Mütze auf den kleinen Tisch, dem einzigen Möbelstück im ganzen Raum. »Sie wissen, warum ich gekommen bin?«
    »Meine Mutter sagte …«
    »Sie hat gesagt, Sie wären verschwunden.«
    »Das stimmt.«
    Er lächelte. »Sie können nicht vor uns weglaufen, John. Außerdem wollen wir nur mit Ihnen reden.«
    Sein Tonfall war sanft, signalisierte aber zugleich Gewissheit und Autorität. Ich wusste sehr wohl, dass die Army aus seinem Mund sprach. Er war groß und durchtrainiert, hatte aber den Bauchansatz eines alleinlebenden Sportlehrers, der während jeder Sportschau einen Sixpack Bier trinkt. Sein Blick wirkte müde. Er war zu alt, um immer noch Captain zu sein.
    »Sie kennen LaDonna Murphy.«
    Ich schwieg.
    Er zog eine Klarsichthülle mit einem Brief darin aus der Innentasche seiner Jacke. Der Umschlag schien in aller Eile aufgerissen worden zu sein. »Das war keine Frage, sondern eine Feststellung«, sagte er, ging zu der Wand, an der meine paar Auszeichnungen hingen, betrachtete sie der Reihe nach und verharrte dann vor Murphs Foto.
    »Sie haben diesen Brief geschrieben.«
    Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Wenn es ein Fehler gewesen war, diesen Brief zu schreiben, dann war das eben so. Wenn nicht, hatte ich genug andere Fehler begangen und würde jede Strafe akzeptieren, die man mir zumaß. Ich war auf alles gefasst. Alle meine Erinnerungen an den Krieg zogen kaleidoskopartig an mir vorüber, und ich schloss die Augen und spürte, wie die Zeit schwer über meinen Körper floss. Ich konnte die Erinnerungen nicht ordnen. Sie ergaben keinen Sinn. Es gab keine logische Abfolge. Man verlangte von mir, dass ich mich für eine Geschichte verantwortete, die ich gar nicht kannte.
    Beim Ruf

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