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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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eines Ziegenmelkers öffnete ich die Augen. Der Captain hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Ich hatte immer noch nicht gelernt, die einzelnen Momente voneinander zu unterscheiden, wusste immer noch nicht, wie es kam, dass sich jeder meiner Atemzüge in eine Erinnerung mit eigener Bedeutung verwandelte, auf dem gewaltigen Berg jener Materialien landete, in denen ich eine Antwort suchte.
    Er wartete. Schließlich fragte er: »Haben Sie sich aufgegeben?«
    »Nein.«
    »Sieht aber ganz so aus.«
    »Die Welt dort draußen hat sich verändert.«
    »Nein. Falsch.
Sie
haben sich verändert.«
    »Kann sein. Aber das interessiert niemanden.«
    »Ja, und?«
    »Ich habe verlernt, dort draußen zu leben.«
    »Hmm … Ja, das kenne ich. Früher hat man so etwas Feigheit genannt. Waren Sie bei den Ärzten?«
    »Ja, war ich.«

    Ich erinnerte mich an den langen, eintönigen Februar, den wir in Kuwait verbrachten, ohne zu wissen, wie lange wir auf den Heimflug warten mussten. Wir starrten Tag für Tag auf die Wüste, die sich ringsumher ausbreitete wie ein Ozean aus doppelt verbrannter Asche. Wir sollten untersucht werden. Man wollte herausfinden, ob wir wieder in unseren Alltag zurückkehren konnten. Die Kompanie wurde in ein riesiges Zelt geführt. Klemmbretter, Stifte und Zettel wurden durch die Reihen gereicht, immer nach rechts, weiter nach rechts. Draußen lag die Wüste, die sich langsam und teilnahmslos, unausweichlich und ebenso unablässig ausdehnte, wie Wellen auf einen Strand zurollen, aber wir waren froh, so weit südlich von Al Tafar zu sein – kampfunfähig. Die Bänke, auf denen wir saßen, standen felsenfest im Sand. Hinten im Zelt begann ein Offizier zu sprechen.
    »Jungs, ihr habt gut gekämpft und seid gut geführt worden, deshalb seid ihr noch am Leben. Jetzt schicken wir euch nach Hause.«
    Mich erfüllte eine tiefe Unruhe.
    »Bitte füllt das auf dem Klemmbrett befestigte Formular aus. Anhand dieses Formulars wird man beurteilen, wie stark ihr belastet seid.« Er verstummte, zog das gestärkte Hemd straff. »Jedem, der das Gefühl hat, an einer – äh – Störung zu leiden, sei hiermit versichert, dass er die beste psychologische Betreuung erhalten wird, die sich die Regierung leisten kann. Praktischerweise …«
    Ich überflog die Fragen, während er sprach, vergaß alles um mich herum, versank in Details, fragte mich, welche psychische Störung in mir schlummerte. Ich ignorierte Staub und Februarwärme, überhörte die hochnäsigen Worte des Offiziers.
    Frage eins: Haben Sie an Kampfhandlungen teilgenommen?
    Ich kreuzte Ja an.
    Frage zwei: Bewerten Sie Ihre emotionale Verfassung nach einem Tötungsfall, indem Sie folgendes ankreuzen:
    A. Erfreut
    B. Bedrückt
    Der Offizier redete immer noch: »Dieser Fragebogen basiert auf genauen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn sich herausstellen sollte, dass ihr zu stark belastet seid, werdet ihr die Möglichkeit haben, euch unter Aufsicht der besten zur Verfügung stehenden Ärzte zu erholen. Dann müsst ihr gar nicht erst von hier verschwinden. Dann fliegt ihr erst heim, nachdem ihr geheilt worden seid, sobald ihr für euer Land wieder einen hochkriegt.« Nach diesen Worten lachte er kurz, als wollte er andeuten, dass er immer noch einer von uns war, dass die Army uns genauso lieb hatte wie zuvor und wie blöd es doch war, dass wir erst noch diese Prozedur über uns ergehen lassen mussten.
    Ich dachte an etwas, das Sergeant Sterling nach Murphs Tod gesagt hatte. Scheiß auf die Ärsche. Ja, scheiß drauf, das ist mein neues Motto. Ich habe A angekreuzt. Ich bin nach Hause zurückgekehrt.

    »Ja, ich habe ihn geschrieben«, sagte ich und beantwortete damit nach langem Schweigen die Frage des Captains.
    »Sir«, sagte er mit leicht verändertem Tonfall.
    »Ich gehöre nicht mehr zu Ihnen.«
    »Sie können ganz schnell wieder zu uns gehören, Private.« Er zog den Brief aus dem Umschlag. Das leise Knistern, mit dem er ihn auseinanderfaltete, erfüllte den ganzen Raum. Dann begann er, vorzulesen: »Mom, hier ist alles bestens. Sergeant Sterling passt auf uns auf …«
    »Hören Sie auf.«
    »Wie bitte?«
    »Hören Sie auf. Ich habe doch schon zugegeben, dass ich den Brief geschrieben habe.«
    »Und Ihnen ist klar, dass das falsch war?«
    »Denke schon.«
    Er schüttelte den Brief. »Wir wissen inzwischen, was passiert ist. Wir wissen, was Sie getan haben.«
    »Ich habe gar nichts getan.«
    »Das sehen wir anders. Warum erzählen Sie mir nicht Ihre

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