Die Spieluhr: Roman (German Edition)
wollte es schon wegwerfen …«
Und während sie ihm noch auseinandersetzte, daß Séraphine nie ohne ihren zerdrückten, schwarzen Strohhut ausging und die Bewohner ihres Hauses mit den frommen Gesängen, die sie beim Malen anstimmte, allmählich in den Wahnsinn trieb, sich beim Metzger kein Fleisch kaufte, sondern nur Ochsenblut erbettelte, welches sie in ihre Farben rühre, war er aufgestanden, hatte das Stilleben mit den fünf Blumen vom Boden genommen und hielt es nun ins Licht der über dem Tisch hängenden Gaslampe.
SO SCHLICHT ES GEMALT WAR, es besaß doch die gleiche Magie, die er auch bei Rousseau, dem Zöllner, oder Vivin und Bombois gespürt hatte und deren Gemälde nun die Wände seiner Pariser Wohnung zierten.
Das kleine Bild zeigte, was es nicht zeigte.
Und genau das schien ihm das Wesen jedes wahren Kunstwerks, daß sich nicht alles, der Tiefe entbehrend, an der Oberfläche zusammendrängte, daß die innere Welt, die diesen Ausdruck hervorgebracht hatte, im Unsichtbaren vorhanden blieb, ja ihren weitaus größten Teil ausmachte.
Er mußte lächeln und an Picasso denken, der mit Braque und anderen Künstlern ein verwahrlostes Haus im Bateau-Lavoir am Montmartre bewohnte und unverkäufliche Bilder produzierte, die meist in ein melancholisches Blau, neuerdings in Rosa getaucht waren. Er – Wilhelm Uhde, und darauf war er ein wenig stolz – hatte sofort gespürt, daß sich hier ein ganz Großer anschickte, die Welt der Kunst zu erobern, und ihm ein Bild abgekauft, das ihn faszinierte, ja erregte, weil es frech die Strukturen der gemalten Gegenstände zerlegte, so daß nichts als Kreise, Kegel und Zylinder übrigblieben. Und doch blieb es in seiner Essenz nicht nur erhalten, es verstärkte sogar seine Wirkung. Ähnliches hatte er schon in den letzten Bildern des großartigen Cézanne gefunden, aber nun führte dieser Spanier hier eine Linie fort, von der er nur zu gerne gewußt hätte, wo sie hinführte …
PLÖTZLICH WURDE ES HELL Im Raum, er schreckte aus seinen Gedanken auf und vernahm das Fauchen einer auflodernden Flamme.
»Monsieur Uhde, möchten Sie nicht ein Stück von meinem Omelette Norvegienne probieren?«
Madame Duphot lächelte ihn verheißungsvoll an und hielt ihm ein Ungetüm von Nachspeise vors Gesicht, das sie auf ihrer Anrichte flambiert hatte.
Er bedankte sich höflich, entschuldigte sich wortreich und verlegen, er müsse noch etwas erledigen, das keinen Aufschub dulde, bat sie, den Preis des Bildes auf die monatliche Miete aufzuschlagen, und stieg mit schlechtem Gewissen und klopfendem Herzen die Treppe hinunter in seine Wohnung.
Das kleine Bild stellte er auf die Ablage seines Kamins, entzündete rechts und links davon je eine Kerze, und nachdem er es noch einmal eingehend betrachtet und seine Wirkung überprüft hatte, beschloß er, Séraphine gleich am nächsten Morgen zu bitten, ihm all ihre Bilder zu zeigen.
SO VERBANDEN SICH AN diesem heißen Augustabend des Jahres 1912 die Lebenslinien zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können und sich doch trafen in ihrer Verlorenheit und Sehnsucht nach einer schöneren Welt, die nur in der Malerei oder der Musik zu haben war.
Uhde, der aus der Neumark stammende großbürgerliche Preuße, bis in die Haarspitzen gebildet, schlank, hochgewachsen, mit schmalem, gut geschnittenem Gesicht und sanften, grauen Augen, die auch dann traurig blieben, wenn er lächelte, hatte Rechtswissenschaften in München und Zürich, später Kunstgeschichte in Florenz studiert, einen Roman geschrieben und war 1904 nach Paris gezogen, um in der französischen Republik die Freiheit und Geistesweite zu finden, die er in seinem wilhelminischen Vaterlande so schmerzlich vermißte. Er, der die Männer den Frauen vorzog (in jenen Jahren nichts weniger als ein Verbrechen), war entflammt für die moderne Kunst seiner Zeit, für all diejenigen, die neue, überraschende Wege gingen, die Naiven, denen er den hübschen Namen »Maler des Heiligen Herzens« gab; er kaufte Bilder, eröffnete eine Galerie, entdeckte, sammelte, förderte und setzte durch, was in den wichtigen, offiziellen Kreisen oft verlacht und gerne niedergemacht wurde.
War es nicht ein göttliches Zeichen (er glaubte nicht wirklich an Gott) –, wurde er also nicht aufs schönste für seine Mühen und Hingabe belohnt, da das Schicksal ihm nun einen Menschen in Gestalt seiner Putzfrau zuführte, von dem er das Gefühl hatte (und es trog ihn fast nie), etwas Tiefes,
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