Die Spieluhr: Roman (German Edition)
Filmarchitekt, und sein Ausstatter Frédéric waren verzweifelt. Sie hatten Dutzende Häuser und Wohnungen besichtigt, Kollegen losgeschickt, viel telephoniert und sogar mit dem Gedanken gespielt, ein leerstehendes, in Teilen zusammengebrochenes Bauernhaus wieder herzurichten.
Philippe, der Regisseur und Drehbuchautor, war mit keinem der Vorschläge zufrieden, er lehnte alles ab und hatte gute Argumente. Seine Vorstellung dieses für den Film so zentralen Raumes war so entschieden, daß er sich nicht darauf einließ, sie an einen wie auch immer gearteten Kompromiß zu verraten.
Es gab heftige Auseinandersetzungen, und François drohte mehr als einmal damit, alles hinzuwerfen und abzureisen.
Die Tage flogen dahin, wie es immer geschieht, wenn sie angefüllt sind mit leidenschaftlicher Arbeit und der Suche nach Lösungen kniffliger Probleme.
AN EINEM FREITAG ANFANG September drehten wir eine Filmszene im verträumten Tal der Epte, in herrlicher, fast unberührter Natur.
Es ist einer jener milden, leuchtenden Spätsommertage, an denen die Natur in Ruhe Kraft für die Ernte des Herbstes sammelt.
Wilhelm Uhde flaniert auf einem seiner ausgedehnten Spaziergänge über eine kleine, steinerne Brücke, die ein rauschendes Flüßchen überspannt, und erblickt plötzlich seine Putzfrau, die keine zehn Meter von ihm entfernt splitternackt in der rasch dahintreibenden Strömung badet.
Erschreckt zieht er sich zurück und versteckt sich hinter einem Baum, während Séraphine, mit den Wellen und Wirbeln des Wassers spielend und ganz in ihre Welt versunken, lateinische Kirchenlieder anstimmt. Ihre Stimme erhebt sich dunkel und warm, sie schwebt über der glitzernden Oberfläche des Wassers als sei sie lebendiger Teil der Natur wie der Fluß oder der Wind, der sanft durch die Blätter der Bäume streicht.
Am frühen Abend war Drehschluß, das Licht hatte sich geändert, Wolken waren aufgezogen, und Laurent, der Kameramann, entschied, es sei zu dunkel, um weiter zu photographieren.
Philippe dankte allen, wünschte ein schönes Wochenende und schickte seinen Assistenten Jean-Luc ins Kopierwerk nach Paris.
Er selbst zog sich mit François zurück, denn Mitte der kommenden Woche sollten die Szenen in Séraphines Kammer gedreht werden.
Das Problem des noch immer nicht vorhandenen Drehorts wurde jetzt in der Tat drängend.
Auf dem Weg zum Wohnwagen, in dem die Kostümabteilung untergebracht war, sah ich Jean-Luc. Er war ein hübscher, etwas sprunghafter, aber phantasievoller junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, den alle ins Herz geschlossen hatten.
Er verstaute zwei Aluminiumkoffer mit den zu entwickelnden Filmen auf der Rückbank seines Autos.
Dann stieg er ein, winkte mir zu und fuhr davon.
AM DARAUFFOLGENDEN MONTAG wurde ich bereits um sechs Uhr früh in Trilport von meinem Fahrer abgeholt und nach Senlis gebracht.
Bevor ich in die Maske ging, die sich gleich neben dem Produktionsbüro in einem ehemaligen Gendarmeriegebäude befand, wollte ich Philippe sprechen, um eine Unklarheit im Drehbuch zu beseitigen.
Als ich ins Büro trat, bemerkte ich, daß etwas nicht stimmte.
Philippe grüßte knapp, fast unfreundlich, alle anderen standen betreten herum und schwiegen.
Ich fragte nach dem Grund dieser Mißstimmung und erfuhr, daß Jean-Luc mit dem gesamten Filmmaterial der letzten zwei Arbeitstage spurlos verschwunden sei; das Kopierwerk habe bereits am Samstag früh Alarm geschlagen, alle Nachforschungen seien aber ohne Erfolg geblieben, und jetzt könne man nur warten und hoffen, daß er wieder auftauche.
Philippe saß da mit rotem Kopf und zusammengekniffenen Lippen. Auch wenn es ihm sichtlich schwerfiel, sich zu beherrschen, so war ja nicht ganz auszuschließen, daß sein Assistent ohne eigenes Verschulden an irgendeinem obskuren Ort verunglückt sein könnte.
Ich beschloß, mein Anliegen später vorzutragen. Jean-Luc würde sicher wieder aufkreuzen, wahrscheinlich gab es eine ganz banale Erklärung für sein Verschwinden.
Ich verließ das Büro und wollte eben hinüber in den Maskenraum gehen, als Jean-Lucs Auto auf den Hof gerast kam und quietschend anhielt. Er sprang heraus, stürzte ohne zu grüßen an mir vorbei und verschwand im Produktionsbüro.
Ich war erschrocken, denn er sah miserabel aus, bleich und übernächtigt, und schien hochgradig erregt.
Vorsichtig folgte ich ihm, öffnete die Tür, die er hinter sich zugeschlagen hatte, einen Spaltbreit, um zu hören, was geschehen war und wie Philippe
Weitere Kostenlose Bücher