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Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Die Spieluhr: Roman (German Edition)

Titel: Die Spieluhr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Tukur
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die Hand – diese zarte, weiße, unvergleichliche Hand! – und führte mich hinaus in den großen Hof des Schlosses, der im goldenen Licht eines unwirklichen Tages dalag wie ein Traumbild aus Steinen, bemoosten Mauern, Terrassen und verwitterten Balustraden.
    In seiner Mitte stand ein Brunnen aus rotem Marmor. Die sich nach oben hin verjüngenden Schalen, über die schäumend das Wasser rauschte, bildeten riesige Meeresmuscheln nach.
    Eine kleine Kapelle stand etwas oberhalb unter hohen Eichenbäumen.
    Wir liefen um das Schloß herum, und die Menschen, die in den blühenden Gärten arbeiteten, winkten uns fröhlich zu und lachten.
    Auf der rückwärtigen Seite des Hauptgebäudes lag ein verwilderter Park. Rechts und links der in allen Farben leuchtenden Hecken und Rabatten hatte man je einen Erdwall aufgehäuft, auf dem Kastanienbäume wuchsen, die einen schmalen Gehweg einfaßten. Er lief weit nach hinten und verlor sich in wogenden Getreidefeldern, über die der Wind strich und die sich bis zum Horizont erstreckten, wo sie von einer sanften Hügelkette abgeschlossen wurden.
    Wir spazierten durch Wellen von Schatten und Licht die Kastanienallee entlang, auf einem weichen Teppich aus Gras und welken Blättern, und es schien, als tanzten wir und schritten in einer Art Pas de deux dahin.
    Ich sah sie unverwandt an, hin und wieder wandte sie mir ihr schönes Gesicht zu, und ich habe es mit den Augen verschlungen, bis sie sich mit Tränen füllten.
    Da blieb sie plötzlich stehen, nahm meinen Kopf in ihre Hände und küßte mich auf den Mund.
    Ich starb, wollte sie umarmen und festhalten, doch mit einer raschen Bewegung entzog sie sich, lachte hell auf, lief davon, den Wall hinunter, wobei ihr kostbares Gewand und das lange, durchsichtige Halstuch in der Luft flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings, in den sie sich auf einmal verwandelt hatte, und ergriffen von einer frischen Brise flog sie empor, höher und immer höher, bis hinauf zu den Wolken, die still und majestätisch durchs tiefe Blau des Himmels segelten …
    Da wurde es mit einem Schlage dunkel, so als würde das Licht der Sonne ausgelöscht.
    Nichts rührte sich mehr, und ich hatte das Gefühl, ich sei in eines dieser seltsamen Bilder geraten, die ich im Schloß gesehen hatte.
    Aber da war keine Stadt, nicht einmal ein Leben im Zwielicht, keine menschliche Behausung, niemand, nichts, es war kalt, und ich starrte in einen nächtlichen Wald, in dem jede Bewegung erstorben war.
    Nicht weit von mir erkannte ich die Umrisse meines Fahrzeugs.
    Ich stieg ein und fuhr davon.
    DEN REST DER GESCHICHTE kennst Du. – Ich habe es inzwischen aufgegeben, weiter nach ihr zu suchen, und darum schicke ich Dir diesen letzten Gruß.
    Ich danke Dir, daß Du mir zugehört hast.
    Lebe wohl und behalte mich in Erinnerung als einen, der die Schönheit suchte, einen flüchtigen Blick ins Paradies tat und dann zur Hölle fuhr.
    Jean-Luc«
    WARUM ICH MICH Am nächsten Morgen auf dem Weg zum Flughafen verfuhr, war mir ein Rätsel.
    Ich hatte in der Nacht miserabel geschlafen, immer wieder war ich aus schweren Träumen aufgeschreckt, so daß ich mich am nächsten Morgen ziemlich erschlagen ans Steuer setzte.
    Ich war müde und unkonzentriert, und so war es allem Anschein nach ein Zufall, daß ich in der Rue de Grenelle landete und an einem großen, alten Gebäude eine vom obersten Stockwerk bis zum Trottoir herabhängende Fahne erblickte, auf der in vertikalen Lettern der Name »Séraphine« zu lesen war.
    Ob es aber wirklich Zufall war, daß ich ausgerechnet durch diese Straße fuhr, weiß ich nicht zu sagen. Doch scheint mir, daß wir allzuleicht Beute eines raffinierten Trugspiels werden, indem nämlich der Zufall nichts anderes ist als die Bestimmung, die im falschen Kleide auftritt.
    Es war das Musée Maillol, das eine umfangreiche Werkschau der Séraphine Louis aus Senlis präsentierte.
    Ich parkte den Wagen und ging hinein.
    WIE WILHELM UHDE, der nach seiner Rückkehr aus Deutschland zufällig vor den Baum des Paradieses trat (in einer Ausstellung im Rathaus von Senlis), so stand auch ich jetzt, achtzig Jahre später, vor dem riesigen Bild, das diesen Namen trug.
    Ich stand da, stumm und benommen von seiner ungeheuren, magischen Wirkung.
    Zwischen den buntgefiederten Blättern und Tiermäulern, den exotischen Früchten und Blumen sahen mich umwimperte Augen an, und plötzlich begann sich alles zu drehen, und im gelben, smaragdgrünen und herbstroten Wirbel

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