Die Sprache unserer Organe
»Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt«. Bei manchen Menschen löst das sogar eine echte Depression aus.
Odile war in drei Autounfälle involviert, die ein Halswirbelsäulentrauma verursacht haben. Sie leidet unter einer zervikobrachialen Neuralgie, also unter Schmerzen im Nacken-Arm-Schulter-Bereich, die umgangssprachlich auch als Reißen im Arm bezeichnet werden. Durch die wiederholten Traumata haben sich an den Ansatzstellen der Bänder ihrer Halswirbeln »Papageienschnäbel« gebildet, knöcherne Ausstülpungen, die auch als Osteophyten bezeichnet werden. Odile hat häufig Kopfschmerzen, zudem leidet sie unter unbestimmten Magenbeschwerden und Rückenschmerzen.
Die Vielzahl der Beschwerden Odiles macht deutlich, dass sich das Verletzungsschema wiederholter Traumata auch auf andere Gelenke oder bestimmte Organe projizieren kann.
Nicht jedem fällt es leicht, an Schicksal zu glauben. Es ist mehr als schwierig, alle Faktoren zu erkennen, die zu einem Unfall geführt haben. Nach einem solchen Erlebnis ist es aber notwendig, eine psychische wie physische Neustrukturierung zu versuchen. Odile trägt keine Schuld an den Zusammenstößen, in allen Fällen ist ihr ohne eigenes Zutun ein anderes Auto aufgefahren, die Versicherungen hatten ihr jeweils Recht gegeben. Aber drei Unfälle hinterlassen ihre Spuren. Ständig wiederholt Odile die Frage: »Was habe ich an mir, dass ich solche Unfälle anziehe. Ich tue doch nichts dazu!« Da sie keine rationale Erklärung für diese anscheinend unvorhersehbaren Vorfälle findet, beschließt sie, den Weg zur Arbeit mit der Bahn zu fahren, wobei sie jedoch hinzufügt: »Jetzt hoffe ich nur, dass der Zug wegen mir nicht entgleisen wird.« Sie hat sich für eine Vermeidungshaltung entschieden. Zudem hat sich in ihrem Kopf ein gewisser Aberglaube festgesetzt, wodurch sie sich verletzlich fühlt. »Ich fühle mich verwundbarer, und es fällt mir schwer, dieses Gefühl der Unsicherheit zu ertragen«, gesteht sie.
Kann man einen Schmerz erneut erleben?
Bei einer Verletzung speichert das Gehirn eine unendliche Menge an Informationen. Mit zeitlichem Abstand zum Geschehen gelangen sie wieder ins Bewusstsein und ordnen sich nach und nach. Dann können wir das Ereignis mit erstaunlicher Präzision wieder zusammenfügen: den Ort, das Wetter, die Geräusche und Gerüche, die Bewegungen um uns herum, die Aufmerksamkeit, die uns zuteilwurde, und die Menschen, die sich um uns gekümmert haben. Versuchen Sie aber mal, sich an einen körperlichen Schmerz zu erinnern. Sie werden feststellen, dass das fast unmöglich ist! Sie werden eine plausible Graduierung ihrer Schmerzen vornehmen. Aber es wird Ihnen nicht gelingen, diesen Schmerz mental wiederherzustellen. Leichter wird Ihnen dies bei einer Farbe, einem Geschmack oder einem seelischen Schmerz fallen. Das Gehirn speichert einen körperlichen Schmerz zwar ab, er kann jedoch nicht erneut erlebt werden.
Ist der Schmerz erst einmal vergangen und das Gelenk wiederhergestellt, kann die »Speicherdatei« der Verletzung zu einer Veränderung unserer Haltung führen. Unser Körper neigt dazu, eine Verteidigungs- oder Rückzugshaltung, eine Kompensationshaltung einzunehmen, die für das Gleichgewicht der Gelenke schädlich ist. Solchen Schonhaltungen sollte man Beachtung schenken, denn sie können Schmerzen an anderen neuralgischen Punkten des Gelenksystems hervorrufen. Nimmt man zu lange eine schlechte Haltung ein, ermüden die betroffenen Gelenke und werden anfälliger.
Kann man von einer Verletzung vollständig genesen?
Nein, von einer Verletzung erholen wir uns niemals vollständig. Wie bereits erwähnt, gräbt sie sich als bleibendes Element unseres Lebens sowohl auf körperlicher als auch auf emotionaler Ebene ein. Sie gehört von nun an zu unserem Lebenslauf.
Wir können aber verhindern, dass sich eine Verletzung in schweren Symptomen manifestiert. Über die scheinbare Heilung und Rehabilitation hinaus erfordert sie eine Rekonvaleszenz und psychologische Arbeit. Wir müssen sie analysieren, verstehen, warum sie eingetreten ist und was sich dadurch in uns verändert hat, müssen ihre negativen und positiven Seiten bewerten. Unsere Schutzmauer wurde angegriffen, aufgebrochen, ihr wurde hart zugesetzt. Diese Tatsache müssen wir akzeptieren und unser moralisches und körperliches Gleichgewicht neu finden. Nun ist eine Reaktion auf den erlittenen Angriff erforderlich.
In dieser Phase, in der wir uns mit unserem Körper aussöhnen und
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