Heimaturlaub
1
Durch den Schlamm der Straßen ziehen graue, verdreckte, abgehärmte Menschen, rumpeln auf schwankenden Rädern Karren und Wagen, bleiben im knietiefen Morast stecken und werden eins mit dem Brei russischer Landstraßen. Die Menschen mit den starren Gesichtern, in denen der Hunger sich eingräbt wie ein Pflug seine Schneide in den Acker, gehen um die Pferde herum, die nicht mehr weiter können, stumpf, stumm, mit leeren Blicken, teilnahmslos. Einer zieht an einer Pfeife, die schon vor Tagen erlosch, ein anderer kaut an einer Brotrinde, die er im Sand seines Brotbeutels fand – und so ziehen sie über Sümpfe und Wälder, durch Steppe und Sand, über Berge und vorbei an Seen, durch Schnee, Eis, Regen, Sonne und Sturm … endlose Kolonnen, grau, verdreckt, müde, ein Heer des Schweigens und der Trauer … deutsche Soldaten auf dem Rückzug aus Rußland.
Sie fragen nicht, warum man sie in diese Öde schleuderte, sie klagen nicht das Schicksal an, sie fluchen auch nicht den wenigen Sterblichen, die mit einem Federstrich Millionen in die Wälder und in das Grauen der östlichen Weiten jagten … sie sind zu müde, um zu fluchen; zu traurig, um zu sprechen und zu stumpf geworden im erlebten Grauen, um zu denken. Sie kennen nur noch eins: laufen. Endlos in die Ferne laufen; dorthin, wo ihre Heimat liegt, ihr Vaterland – Deutschland. Wo der Hof ist und die Frau, wo die Kinder sind und die alte Mutter, die beim Abschied die Schürze an die verweinten Augen drückte. Sie wissen nur eins: Heraus aus dieser Hölle des Ostens, fort aus dem Grauen der Vernichtung.
Inmitten der endlosen Kolonnen geht ein Mann, verdreckt wie die anderen, die Pistole offen im Gürtel, über den Rücken eine Zeltplane geworfen. Und bei jedem Schritt, den seine Beine automatisch setzen, wippt die schief sitzende Offiziersmütze auf dem grauen Haar. Er geht inmitten des Schlamms wie eine aufgezogene Puppe, fast wie ein Schlafwandler, und die halbgeschlossenen Lider verstärken den Eindruck, als schlafe er im Gehen.
Doch er ist wach, hellwach sogar. Wie die Fantasie eines Fieberkranken sieht er vor seinem Geist Bilder stehen, Bilder, die ihm die Kehle zuschnüren und Tränen in die Augen treiben.
Ist das die unbesiegbare deutsche Wehrmacht, die hier im Morast sich zur Grenze wälzt? Wo sind die Truppen, die 1939 in die erste Schlacht zogen und einen Zug durch ganz Europa bis an die Vorboten der asiatischen Steppen unternahmen? Wo sind sie, die Norwegen eroberten, die Frankreich, Holland und Belgien überrannten und auf der Akropolis die deutsche Fahne hißten? Wo ist die Jugend, der Stolz Deutschlands? Er sah sie umsinken im Trommelfeuer, sah sie in der Hölle des erbarmungslosen Kriegs verbluten, sah ihre verzweifelten Blicke, ihre letzten Wünsche, hörte ihren letzten Fluch. Stalingrad war der Tod der deutschen Kraft!
Nun ziehen die, die übriggeblieben sind, langsam dahin – müde Gestalten, von Hunger und Fieber und Natur geschlagen, Greise von dreißig Jahren und Jünglinge von achtzehn, die von der Schulbank weg zu Männern gezwungen wurden.
Der Mann mit den geschlossenen Lidern und der schiefen Offiziersmütze hält im Gehen inne und läßt die Kolonnen an sich vorbeiziehen. Man beachtet ihn nicht, knickt in der Marschlinie ein und brandet um ihn herum wie um einen großen Stein. Nur ein anderer Mensch, nicht minder müde als alle, winkt ihm zu und ruft: »Bleib nicht stehen, Heinz! Sonst heißt es, du wolltest überlaufen!« Er lacht kurz auf.
Kriegsberichter Heinz Wüllner, im Zivil Hauptschriftleiter, Autor und Chefkommentator des angesehenen Verlags ›Europaruf‹, blickt auf den Rufer und verzieht spöttisch den Mund:
»Hast gut reden, Willi! Wenn man statt der Füße nur noch Blasen hat, pfeift man auf alle Militärgesetze!«
»Was kümmern Deutschland deine Blasen! Komm, alter Kommilitone, nimm deine Füße in die Hand … wenn's so weitergeht, sind wir in einem Monat im Grunewald!«
Kriegsberichter Wilhelm von Stohr faßt seinen Freund Heinz an dem verdreckten Ärmel und zieht ihn mit sich fort … und wieder beginnt der Trott, stumm, in sich gekehrt, müde, stumpf. Die Wagen sinken ein, die Pferde schreien, einer raucht eine Pfeife, der andere kaut sandiges Brot, und der Morast quietscht unter den Sohlen.
Am Himmel aber bildet sich im Osten ein rosiger Streifen. Dort, wo sie herkommen, geht die Sonne auf. Und dort, wo sie hinziehen, entflieht die Nacht.
Berlin, die Reichshauptstadt, zeigte sich am 3. November 1943 von
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