Venus 01 - Piraten der Venus
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»Wenn am Dreizehnten dieses Monats um Mitternacht eine weiß gekleidete Frauengestalt Ihr Schlafzimmer betritt, beantworten Sie bitte diesen Brief – andernfalls nicht.«
Als ich das Schreiben so weit gelesen hatte, wollte ich es schon in den Papierkorb werfen, wie ich es bei verrückten Zuschriften dieser Art zu tun pflegte, aber aus irgendeinem Grund las ich wei ter. »Wenn Sie von der Gestalt angesprochen werden, merken Sie sich bitte ihre Worte und wiederholen Sie sie mir in Ihrer Ant wort.« Vielleicht hätte ich das Schreiben zu Ende gelesen, wenn in diesem Augenblick nicht das Telefon geläutet und mich auf eine Vereinbarung hingewiesen hätte, um die ich mich sofort kümmern mußte. Ich sprang auf und ließ den Brief in einen der Körbe auf meinem Schreibtisch fallen; zufällig war es der Korb, aus dem sämtliche Schriftstücke in die Ablage wanderten. Normalerweise wäre die Angelegenheit damit erledigt gewesen, und ich hätte nie mals wieder an den Brief gedacht, wenn mich die Ereignisse des Dreizehnten nicht abrupt daran erinnert hätten.
In den Tagen nach dem Eingang des Briefes war ich außeror dentlich angespannt. Am Abend des Dreizehnten schwirrte mir der Kopf von den Einzelheiten einer schwierigen Grundstücks transaktion, und ich konnte kaum einschlafen. Meine Gedanken kreisten um notarielle Beglaubigungen, Grundstücksurkunden und Restkaufgeldforderungen. Was mich schließlich weckte, weiß ich nicht. Jedenfalls fuhr ich plötzlich auf und sah mich einer weißge kleideten Frauengestalt gegenüber, die soeben meinen Raum durch die Tür betrat. Das Erstaunliche dabei war, daß sie die Tür nicht geöffnet hatte, sondern einfach durch das Holz hereinkam. Es war eine mondhelle Nacht, und die vertrauten Gegenstände in meinem Schlafzimmer waren deutlich zu sehen – aber auch die geisterhafte Gestalt, die am Fußende meines Bettes zu schweben schien.
Ich leide normalerweise nicht unter Halluzinationen. In meinem ganzen Leben war ich noch keinem Gespenst begegnet und verspürte auch nicht den Wunsch danach. Dementsprechend unvor bereitet war ich auf die Situation und wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Selbst wenn die Dame nicht so offensichtlich eine übernatürliche Erscheinung gewesen wäre, hätte ich nicht gewußt, wie ich sie zu dieser späten Stunde in meinem Schlafzimmer emp fangen sollte, denn bisher hatte noch keine fremde Frau diese Schwelle übertreten, da ich puritanisch erzogen worden bin.
»Heute ist der Dreizehnte, und wir haben Mitternacht«, sagte sie mit leiser, musikalischer Stimme.
»Stimmt«, erwiderte ich und mußte plötzlich an den Brief den ken, den ich vor einigen Tagen erhalten hatte.
»Er hat Guadalupe heute verlassen«, fuhr sie fort, »und wird in Guaymas Ihr Schreiben erwarten.«
Das war alles. Sie durchquerte den Raum und verließ ihn – nicht durch das Fenster, das sich eigentlich angeboten hätte, sondern durch die Wand. Ich saß eine Minute lang regungslos in mei nem Bett und starrte auf den Punkt, an dem sie verschwunden war, und versuchte mich davon zu überzeugen, daß ich geträumt hatte. Doch ich hatte nicht geträumt; ich war hellwach. Ich war so gar derart wach, daß ich eine Stunde brauchte, um mich wieder in Morpheus Armen zu verlieren, wie es ein viktorianischer Schreiber ausgedrückt hätte.
Am nächsten Morgen traf ich etwas früher als gewöhnlich in meinem Büro ein, und ich brauche nicht zu betonen, daß ich natür lich sofort nach dem Brief zu forschen begann, den ich um den Zehnten herum erhalten hatte. Leider konnte ich mich nicht an den Absender erinnern. Aber mein Sekretär wußte noch den Ort, an dem der Unbekannte das Schreiben aufgegeben hatte, das unge wöhnlich genug gewesen war, um seine Aufmerksamkeit zu er wecken.
»Der Brief kam irgendwo aus Mexiko«, sagte er, und da die Un terlagen dieser Art nach Ländern geordnet waren, wurde das Ge suchte schnell gefunden.
Sie können versichert sein, daß ich den Text diesmal sorgfältig studierte. Der Brief war am Dritten in Guaymas aufgegeben wor den, in einer Hafenstadt am Golf von Kalifornien.
Mein lieber Herr!
Im Zusammenhang mit der Durchführung eines Projektes von größter wissenschaftlicher Bedeutung sehe ich mich vor der Notwendigkeit, um die – nicht finanzielle – Unterstüt zung eines psychisch mit mir harmonisierenden Men schen nachzusuchen, der zugleich über ausreichende Intelli genz und Bildung verfügt, um die gewaltigen Möglichkei ten meines
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