Die Spur des Verraeters
gegenüberliegenden Straßenseite, um ein letztes Mal und in aller Eile zu besprechen, wie sie den entscheidenden Schlag am Ende dieser langen Ermittlung führen sollten.
Seit Beginn des Frühjahrs war Edo von einer grässlichen Verbrechensserie heimgesucht worden. Diebe hatten Leichen gestohlen – aus den Häusern der Verstorbenen oder von Unfallorten. Sie hatten sogar Trauerzüge überfallen und die Särge geraubt, wenn diese zur Beisetzung getragen wurden. Ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen Rang des Verstorbenen hatten die Täter insgesamt neun Leichen von Samurai, Kaufleuten und gemeinen Bürgern geraubt; außerdem waren acht Pilger auf den Fernstraßen vor der Stadt ermordet worden. Stets hatte man nur noch die frischen Blutspuren und das Gepäck der Getöteten am Tatort gefunden; die Opfer selbst waren verschwunden, und bisher hatte man keine der Leichen entdeckt.
Der Shogun persönlich hatte Sano den Befehl erteilt, die Leichendiebe aufzuspüren und festzunehmen; deshalb hatte Sano überall in der Stadt Spitzel verteilt. Als Handwerker und Hausierer getarnt, hatten diese Männer sich in Teehäusern, in den Spielhöllen und Bordellen des Vergnügungsviertels Yoshiwara und an anderen Örtlichkeiten umgeschaut, die von Verbrechern vorzugsweise aufgesucht wurden. Am Morgen des heutigen Tages hatte einer von Sanos Spitzeln ein Gespräch mitgehört, bei dem ein Diener geprahlt hatte, von den Halunken bezahlt worden zu sein, dass er ihnen half, die Leiche seines kürzlich verstorbenen Herrn während der abendlichen Totenwache zu stehlen. Der Spitzel war dem Diener zur Villa eines reichen Speiseölhändlers gefolgt und hatte Sano dann mitgeteilt, wo sich das Haus befand.
»Wenn die Diebe kommen, folgen wir ihnen«, wandte Sano sich nun an Hirata und seine Männer. »Wir müssen den Anführer ergreifen und herausfinden, was mit den Leichen geschieht.«
Die Samurai-Polizisten verteilten sich um die Villa des Händlers, während Sano und Hirata sich in einem dunklen Hauseingang versteckten, der sich auf der Rückseite des Gebäudes befand, gegenüber vom Hintereingang, an dem eine stille Gasse vorüberführte. Dann warteten Sano und Hirata eine Stunde lang im prasselnden Regen und der schwülwarmen Luft, doch die Straße blieb menschenleer. Sanos Besorgnis wuchs.
Sano Ichirō war der Sohn eines rônin , eines herrenlosen Samurai, und hatte sich lange Zeit als Lehrer an der väterlichen Akademie für Waffenkampf seinen Lebensunterhalt verdient, während er sich in der Freizeit mit seiner großen Leidenschaft beschäftigte, der Geschichte. Beziehungen seines Vaters zu hohen Beamten hatten Sano später die Stelle eines Polizeioffiziers verschafft. Sano hatte sich bewährt, hatte gleich zu Beginn seiner Laufbahn einen schwierigen Mordfall gelöst und dem Shogun, Tokugawa Tsunayoshi, das Leben gerettet. Nach anderthalb Jahren im Polizeidienst war Sano vom Shogun persönlich in das bedeutende Amt des sôsakan-sama berufen worden. Als Sano den Bundori-Mörder gefasst hatte, der Edo mit seinen Morden in Furcht und Schrecken versetzte, hatte er sich überdies die Achtung und das Wohlwollen des Shogun erworben.
Inzwischen hatte Sano eine Vielzahl weiterer Fälle gelöst; sein Ansehen war gestiegen, sein Mitarbeiterstab gewachsen. Nach anfänglichen Rückschlägen hätte er inzwischen überaus zufrieden mit seinen beruflichen Erfolgen sein können, zumal im Herbst seine Hochzeit mit Reiko gefeiert werden sollte, der Tochter des wohlhabenden und einflussreichen Magistraten Ueda – eine Ehe, die Sanos gesellschaftlichem Ansehen sehr förderlich sein würde.
Doch eine finstere Wolke warf einen Schatten über Sanos Leben. Seine Illusionen, was den bakufu betraf, hatten sich als trügerisch erwiesen: Die Militärdiktatur des Shogun war eine bestechliche, menschenverachtende Maschinerie der Unterdrückung. Den Befehlen des bakufu gehorchend, musste Sano auch harmlose Bürger bespitzeln, die Kritik an der Regentschaft des Herrscherhauses geübt oder die Tokugawa auf andere Weise beleidigt hatten. Und damit nicht genug: Sanos Ermittlungsergebnisse wurden absichtlich verzerrt und falsch dargestellt, um ehrliche Männer in Verruf zu bringen, die dann zur Strafe des Landes verwiesen oder hingerichtet wurden.
Und der Shogun selbst war nicht besser als sein Regime. Tokugawa Tsunayoshi gab seiner Schwäche für die Religion, die Künste und für Knaben nach, worüber er die Staatsgeschäfte vernachlässigte. Außerdem erteilte
Weitere Kostenlose Bücher