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Die Spur des Verraeters

Die Spur des Verraeters

Titel: Die Spur des Verraeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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das Seil noch einmal. Diesmal blieb der Haken an einem der Pfähle hängen. Sano zerrte am Seil; es hielt. Er stemmte die Füße gegen den felsigen Untergrund und zog sich aus dem Wasser, wobei er rasch über die Schulter auf die Wachboote blickte. Hand über Hand hangelte er sich das Seil hinauf, wobei die Sohlen seiner Schuhe über das Holz der Palisaden schabten. Schließlich erreichte Sano das Ende des Seils, stützte sich mit den Unterarmen auf den Palisaden ab und schaute hinunter auf den schmalen Gehweg zwischen dem äußeren und dem inneren Zaun.
    Niemand war zu sehen, doch Sano hörte Stimmen in der Nähe. Für einen Moment dachte er an die schrecklichen Folgen, falls er dabei gefasst wurde, wie er unerlaubt die Insel betrat: Man würde ihn auf der Stelle töten. Doch ein Zurück gab es für ihn nicht, zumal die Wachen im Boot auf ihn schießen würden, sobald sie ihn sahen. Sano überkletterte den Zaun, hielt sich mit einer Hand an der Spitze einer Palisade fest und machte mit der anderen den Haken los. Dann ließ er sich fallen.
    Seine Füße landeten mit lautem Knirschen im Kies des Gehwegs. Eilig rollte er das Seil zusammen und schob es unter seinen triefend nassen Umhang; dann eilte er zu dem Tor, an das er sich von seinem ersten Besuch erinnerte. Vorsichtig öffnete Sano es einen Spalt weit und schaute hindurch.
    Im Garten der Barbaren saßen drei Wachsoldaten mit dem Rücken zu ihm und spielten Karten. Rauch stieg aus ihren Pfeifen. In der Nähe grasten Ziegen vor einem Stall; Hühner scharrten in einem Pferch neben dem Gemüsebeet. Gleich dahinter standen die Unterkünfte der Barbaren. Sano schlüpfte durchs Tor, schloss es leise hinter sich und huschte durch den Garten. Er duckte sich hinter den Ziegenstall und warf einen Blick zu den drei Wachsoldaten hinüber. Sie schienen nichts bemerkt zu haben. Die Rückwand des nächsten Hauses war gut zehn Schritt entfernt. Plötzlich hörte Sano über das Gemurmel der drei Wächter hinweg die Bemerkung eines der Männer:
    »Wenn man überlegt, wie viele zusätzliche Truppen auf Deshima sind und dass die Barbaren im Gemeinschaftsraum eingeschlossen wurden, ist es für uns Wachsoldaten fast wie im Urlaub. Wir sollten öfters Krieg haben.«
    Die beiden anderen Männer lachten. In Sano stieg Verzweiflung auf. Wie sollte er ungestört mit Dr. Huygens sprechen, wenn die Barbaren noch schärfer bewacht wurden als üblich?
    Und wie sollte er lebend zurück aufs Festland kommen?
    Sano dachte an Hirata, an die ermordete Pfingstrose, an Alter Karpfen und die anderen Diener, die bei dem Brand ums Leben gekommen waren. Er dachte an Kiyoshi, der wahrscheinlich als Unschuldiger zum Tode verurteilt worden war, und an Statthalter Nagai, Kommandant Ohira, Dolmetscher Iishino, Kaufmann Urabe, an Abt Liu Yun und die Barbaren, die weiterhin morden und schmuggeln konnten, wenn er sie nicht aufhielt.
    Entschlossen schüttelte Sano den Kopf; er musste mit Huygens sprechen, und wenn es ihn das Leben kostete. Leise verließ er seine Deckung und schlich auf die Lücke zwischen den Häusern zu, wobei er die drei Wachsoldaten im Auge behielt. Bald konnte er durch die Lücke hindurch die Straße und das Lagerhaus gegenüber sehen. Die Gefahr ließ seine Haut prickeln; es fühlte sich an wie der Energiefluss unmittelbar vor einem Blitzschlag. Die Hälfte der Strecke lag hinter ihm. Nur noch zehn Schritte …
    Sano huschte in die Lücke zwischen den Häusern, drückte sich an eine Wand und stieß den angehaltenen Atem aus. Dann schlich er zur Straße und spähte vorsichtig nach links und rechts.
    Die Häuser schienen unbewacht zu sein. Die Wachmannschaft auf Deshima konzentrierte sich offenbar auf das Gebäude, in dem sich der Gemeinschaftsraum der Barbaren befand; das Haus stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ungefähr fünfzig Schritt rechts von Sano. Zehn Wachsoldaten standen vor dem Eingang, drei weitere auf dem Balkon; wahrscheinlich bewachten zusätzliche Männer die Rückseite des Hauses. Sano fragte sich, ob er die Wachsoldaten ablenken konnte, um zu Dr. Huygens vorzudringen.
    Als er zur linken Seite der Straße schaute, sah er plötzlich Hauptmann Nirin aus der Tür des ärztlichen Behandlungszimmers kommen. Wurde Huygens gar nicht im Versammlungsraum der Barbaren festgehalten? Sano wartete, bis Nirin verschwunden war, schlich zurück auf den Hinterhof und rannte nach links. Ein Wächter kam aus dem Hinterausgang eines Hauses, und Sano huschte in die Deckung eines

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