Die Spur des Verraeters
Flüchtlinge, die aus der Stadt in die Hügel zogen, verebbte allmählich. Viele Läden hatten bereits auf unbestimmte Zeit geschlossen; Häuser standen leer und waren verriegelt und verrammelt. Sano ließ den Blick in die Runde schweifen und fluchte leise vor sich hin. Noch wurden die Uferpromenade, die Anlegestellen und der Strand von Soldaten bewacht. Auch das Wachhaus auf Deshima und die Brücke wurden noch immer von Posten kontrolliert, und nach wie vor umrundeten Patrouillenboote die Insel. Der Beweis, den Sano brauchte, um die Schmuggler zu belasten und sich und Hirata von jedem Vorwurf reinzuwaschen, befand sich auf Deshima. Aber wie sollte er dorthin kommen?
Wasserträger gingen an Sano vorbei; an beiden Enden einer Stange, die sie über den Schultern trugen, hingen Holzeimer. Mit plötzlichem Interesse beobachtete Sano, wie die Männer die Eimer an einem Brunnen füllten und sie dann hügelabwärts trugen. Der Morgen war schwül, bewölkt und windstill; schon jetzt stieg Dunst aus dem Boden, der von den Regenfällen des Vortages noch feucht war. Das Meer, auf dem der holländische Segler, die japanischen Kriegsschiffe und die Patrouillenboote trieben, schimmerte wie farblose Seide. Noch immer war das rhythmische Dröhnen der Kriegstrommeln zu hören. Sano schwitzte unter seinem weiten Umhang, lächelte aber, als er sah, dass die Wasserträger die durstigen Soldaten versorgten. Er eilte zum Brunnen und näherte sich einem der Träger.
»Gib mir deine Eimer«, sagte er und drückte dem Mann sein Schwert in die Seite.
Der Wasserträger schluckte. »Ja, Herr!«
Mit einem Faustschlag schickte Sano den Mann ins Reich der Träume und schleifte ihn hinter ein Mauerstück. Dann legte er sich die Tragestange über die Schultern und stampfte den Hügelhang hinunter. Er stöhnte, denn die Pfeilwunde schmerzte unter der schweren Last. Wie schafften diese Burschen es nur, den ganzen Tag lang diese schweren Wassereimer zu schleppen? Sano ahmte die Technik der Träger nach, indem er die Stange leicht schwanken ließ, sodass sich das Gewicht ständig verlagerte. Wasser schwappte aus den Eimern. Schon nach kurzer Zeit bildeten sich wunde Stellen auf Sanos Schultern. Keuchend und schwitzend erreichte er die Uferpromenade.
»He, du! Gib mir Wasser!«, rief ein berittener Soldat.
Sano eilte zu ihm. Das Gesicht zur Seite gewandt, stellte er die Eimer ab und füllte den Schöpflöffel. Als er ihn dem Soldaten reichte, bäumte das Pferd sich plötzlich auf. Wasser spritzte auf den Waffenrock des Mannes.
»Du tollpatschiger Narr!«, schimpfte er, beugte sich im Sattel vor und verpasste Sano eine Ohrfeige.
Angesichts dieser Beleidigung regte sich in Sano der Stolz des Samurai. Doch er schluckte eine zornige Erwiderung hinunter und behielt seine unterwürfige Haltung bei. »Ich bitte tausend Mal um Vergebung, Herr«, sagte er kleinlaut.
Dann bewegte er sich die Uferpromenade hinunter, indem er Wasser an die dort lagernden Soldaten ausgab. Doch er sah keine Möglichkeit, unbemerkt an den Wachen auf Deshima vorbeizukommen. Seine Wassereimer leerten sich rasch; bald würde er zum Brunnen zurückmüssen, um sie nachzufüllen. Weiter die Küste hinunter, am Ende der Uferpromenade, wurde das Gelände felsig und bewaldet. Vielleicht gelang es ihm von dort aus, ungesehen ins Wasser zu kommen. Doch mit seiner verwundeten Schulter, den Brandverletzungen und der hinderlichen Kleidung und Ausrüstung konnte Sano unmöglich die gesamte Strecke bis nach Deshima schwimmen. Die Wachsoldaten in den Patrouillenbooten würden ihn entdecken, kaum dass er sich der Insel näherte. Er musste eine andere Möglichkeit finden.
Sano beobachtete, wie ein kleines Wachboot vor der Küste Deshimas ablegte. Die zwei Mann Besatzung ruderten zur Station der Hafenpatrouille, vertäuten das Boot am Steg und stiegen aus. Die neue Besatzung ging an Bord, ruderte zur Insel zurück und nahm dort dicht am Ufer wieder die Bewachung auf. Sano eilte auf den Steg, als wollte er den Soldaten, die dort saßen, Wasser bringen. Doch die Männer beachteten ihn gar nicht; sie beobachteten ein anderes Boot, das sich dem Steg näherte. Überdies schützte das Stationsgebäude Sano vor den Blicken der Wachsoldaten auf der Uferpromenade. Er setzte die Stange mit den Eimern ab und ließ sich an einem der bemoosten Pfähle ins Wasser gleiten. Das Salzwasser und die Kälte ließen seine Wunden wie Feuer brennen. Rasch nahm Sano den Hut ab, zog den Umhang aus und stopfte beides
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