Die Spur des Verraeters
leben. Wer hatte das schlimmere Unheil angerichtet – der Mörder von Jan Spaen oder er, Sano Ichirō? Denn unter der Oberfläche seiner vorgeblichen Suche nach Ehre und Gerechtigkeit erkannte Sano ein anderes, weit weniger edles Motiv, an das er nie zuvor gedacht hatte: Er wollte beweisen, dass er Recht hatte und moralisch überlegen war. Hatte er durch dieses im Grunde selbstsüchtige Verlangen den Tod neun unschuldiger Menschen verursacht und einen Krieg heraufbeschworen?
Doch Sanos quälende Schuldgefühle schlugen in Zorn um, als er an die Männer dachte, die dermaßen versessen auf seinen Tod waren, dass es keine Rolle für sie spielte, wie viele Unschuldige dabei sterben mussten – Hauptsache, es sah nach einem Unfall aus. Mit schweren Schritten ging Sano zum Eingangstor an der Straße. Wie er es nicht anders erwartet hatte, waren die Soldaten verschwunden. Wahrscheinlich waren sie abgerückt, damit der Brandstifter in Ruhe sein Werk verrichten konnte, und waren deshalb nicht wieder erschienen, weil sie davon ausgegangen waren, dass Sano in den Flammen sein Leben gelassen hatte. Sano näherte sich einer Gruppe neugieriger Gaffer.
»War einer von euch in der Nähe, als das Feuer ausgebrochen ist?«, fragte er.
»Ja, ich«, meldete sich ein junger Samurai. »Ich hatte gestern Nacht Feuerwachdienst.« Er wies auf eine überdachte hölzerne Plattform, die sich auf langen Stützen über die Gebäude in der nächsten Querstraße erhob. »Als ich die Flammen sah, habe ich sofort Feueralarm gegeben.«
»Habt Ihr zu dem Zeitpunkt jemand in der Nähe des Hauses gesehen?«
Der Samurai nickte. »Ein Mann stand auf dem Dach. Als die Flammen emporschlugen, ist er auf das Dach des Nachbarhauses gesprungen. Ich habe ihn angerufen, dass er stehen bleiben soll, aber er ist davongerannt. Als ich vom Feuerwachturm heruntergestiegen und hierher gerannt bin, war der Mann verschwunden.«
»Wie sah er aus?«, fragte Sano.
»Ich konnte ihn nicht gut sehen. Er war zu weit weg. Aber er trug einen großen Hut und einen kurzen Kimono.«
Und er musste ziemlich jung und beweglich sein. Statthalter Nagai kam nicht in Frage; doch er hätte jemand anders mit einer so schmutzigen Arbeit beauftragt. Gleiches galt für Abt Liu Yun, der seines Alters wegen als Brandstifter ausschied. Also blieben Nagai, Abt Liu Yun, Kommandant Ohira, Urabe, Dolmetscher Iishino und die Wachsoldaten auf Deshima mögliche Täter oder Anstifter, die Sano beseitigen wollten, um ganz sicherzugehen; immerhin bestand die geringe Möglichkeit, dass er vom Tribunal freigesprochen wurde und die Behörden in der Hauptstadt Edo dazu brachte, die Beamten in Nagasaki genau unter die Lupe zu nehmen. Voller Zorn und Enttäuschung biss Sano die Zähne zusammen. Die Tragödie hatte die Liste seiner Verdächtigen um keinen einzigen Namen schrumpfen lassen.
Doch unter der Oberfläche von Sanos Wut bildete sich eine harte Eisschicht unerschütterlicher Entschlossenheit. Seine Feinde hatten ihm die Arbeit weiter erschwert, aber er würde niemals aufgeben. Es gab immer noch den Plan, den er sich am Abend zuvor zurechtgelegt hatte. Jetzt galt es für Sano, noch mehr Mordopfer zu rächen und seine bitteren Schuldgefühle wegen der Brandopfer zu mildern, indem er die wahren Täter erst recht stellte.
Falls er lange genug lebte.
29.
D
ie Suche nach ergiebigeren Zeugen der Brandstiftung war fruchtlos, doch zum Ausgleich erwies der Glücksgott Sano immerhin zwei Gefälligkeiten. Sein Geld, das er in einer feuersicheren eisernen Schatulle aufbewahrte, hatte den Brand überstanden. Und Sano wurde nicht verfolgt, als er den Ort der Katastrophe verließ: Offenbar hatten seine Feinde noch nicht erfahren, dass er das Feuer überlebt hatte. Deshalb beeilte er sich nun, um den vorübergehenden Vorteil der völligen Freiheit zu nutzen.
Er gab dem Vorsteher der Straße sein Langschwert zur Aufbewahrung. Dann kaufte er sich im Händlerviertel einen kurzen Kimono aus Baumwolle, einen breitkrempigen Strohhut, Sandalen, Beinlinge, um die Verbände auf seinen Brandwunden zu verbergen, und einen weiten Umhang, unter dem sein Kurzschwert nicht zu sehen war. Er vernichtete seine alte, von Brandspuren gezeichnete Kleidung und zog die neuen Sachen an. Bei einem Seiler kaufte er eine Rolle Hanfseil, an dem er einen eisernen Haken befestigte, den er bei einem Schmied erwarb. Dann schlang er sich das Seil unter dem Umhang um die Taille und machte sich auf den Weg zum Hafen.
Der Strom der
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