Die Spur des Verraeters
Schwertern. Sano musste an einen Fall von Geiselnahme denken, mit dem er vor langer Zeit zu tun gehabt hatte. Jetzt war er der Geiselnehmer. Ein albtraumhaftes Gefühl der Unwirklichkeit überkam ihn.
»Lasst uns durch, oder ich töte ihn!«, rief er.
Er hielt das Schwert so, dass die Soldaten den Griff der Waffe sehen konnten. Die Männer verstummten und blickten den Hauptmann an, warteten auf Befehle. Nirin sog scharf den Atem ein, als die Schwertspitze ihn wieder in die Achselhöhle stach; dann lachte er plötzlich auf. »Ihr könnt mich nicht töten, sôsakan . Ihr braucht mich, um davonzukommen.« An seine Männer gewandt, sagte er: »Hört nicht auf ihn! Dieser Mann schwindelt bloß.«
Bewegung kam in die Menge, doch Sano konnte Nirins Unsicherheit spüren und erkannte sie auch auf den Gesichtern der Soldaten. Er wusste, was diese Männer dachten: Wer verrückt genug war, sich auf Deshima zu schleichen, war auch verrückt genug, eine Geisel zu töten. Schließlich machten die Soldaten eine Gasse frei. Sano ging mit seiner Geisel weiter, bedächtig, Schritt für Schritt, die schier endlose Straße hinunter.
»Wo ist Kommandant Ohira?«, fragte er Nirin.
Der Hauptmann bedachte Sano mit einem gehässigen Blick. »Es geht Euch einen Dreck an, wo mein Vorgesetzter sich aufhält«, stieß er hervor, als sie sich dem Haupttor näherten. »Ich werde Euch gar nichts sagen! Und Ihr müsst mich am Leben lassen, wenn Ihr an den Wachen am Haupttor vorbei wollt. Außerdem müssen wir noch über die Brücke und dann an der Hauptwache auf dem Festland vorbei und über die schwer bewachte Uferpromenade, an den Truppen in der Stadt vorüber und …«
»Wo ist Ohira?«, fragte Sano noch einmal und drückte mit der Schwertspitze zu, dass Nirin unterdrückt aufstöhnte. »Ich kann Euch auch die Hand abschneiden!« Nirin schwieg verbissen.
Sie gelangten zum Haupttor. »Mach auf!«, befahl Sano dem Wachsoldaten. »Und sorg dafür, dass niemand uns folgt.«
Nirin versteifte sich; Schweiß lief ihm übers Gesicht. Es war offensichtlich, dass er Verstümmelungen mehr fürchtete als den Tod. Er wandte sich dem Wachsoldaten zu. »Tu, was er sagt«, presste er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor.
Der Wachsoldat gehorchte und öffnete das Tor. Sano führte seinen Gefangenen über die Brücke. »Zum letzten Mal«, sagte er, »wo ist Ohira?«
»Schon gut, schon gut!« Nirin zitterte jetzt am ganzen Leib. »Er wollte zum Daikoku-Tempel.« Er nannte Sano den Ort des Heiligtums. »Was wollt Ihr von ihm?«
Die Wahrheit über den Mord an Jan Spaen und die Schmugglerbande, antwortete Sano im Stillen. Die Mitarbeit von Kommandant Ohira war für ihn und Hirata der Schlüssel zur Freiheit.
Als Sano und Nirin über die Brücke gingen, verbeugten die Wachen sich vor ihrem Hauptmann, während sie Sano mit düsteren Blicken bedachten. »Sagt ihnen, dass ich mit Eurer Erlaubnis nach Deshima gekommen bin«, raunte Sano, der immer noch das Schwert unter dem Waffenrock des Hauptmanns verborgen hielt. »Sie sollen dafür sorgen, dass außer uns niemand die Insel verlässt.«
Der Hauptmann wiederholte die Lüge mit so dünner, ihm fremder Stimme, dass Sano befürchtete, seine Täuschung könnte auffliegen. Er spürte, dass Nirin fieberhaft nach Möglichkeiten suchte, zu entkommen – doch alle Wege führten in den Tod. Als die Wachsoldaten die beiden Männer durchließen, wurde Sano von einer Woge der Erleichterung durchflutet. Sie gelangten durch das Wachhaus, ohne den üblichen Sicherheitsüberprüfungen unterzogen zu werden. Schließlich erreichte Sano mit seinem Gefangenen die Uferpromenade, auf der es von Soldaten nur so wimmelte. Die Männer trugen allesamt ähnliche Uniformen wie Sano und sein Gefangener.
»Damit kommt Ihr nicht durch«, zischte Nirin. »Dafür werde ich Euch töten!«
»Habt Ihr mit dem Bogen auf mich geschossen?«, fragte Sano. »Wart Ihr es, der mein Haus angezündet hat?«
»Nein. Aber ich wünschte, ich wäre es gewesen, weil Ihr dann nämlich tot wärt, denn ich hätte nicht versagt!«
»Habt Ihr Jan Spaen oder Pfingstrose ermordet?«
»Nein!«
Natürlich wusste Sano, dass er Nirin nicht auf unbestimmte Zeit als Geisel behalten konnte. Als sie die Straße hinaufgingen – an Gruppen von Einwohnern vorüber, die mit ihren Habseligkeiten aus der Stadt flüchteten – überlegte Sano, wie er Nirin loswerden konnte, ohne einen Kampf auf Leben und Tod führen oder befürchten zu müssen, dass der Hauptmann
Weitere Kostenlose Bücher