Die Spur des Verraeters
wagen, mich an einem heiligen Ort zu stören?« Ohira war hagerer als je zuvor, als hätten Schmerz und Kummer ihm das Fleisch von den Knochen gezehrt. »Was wollt Ihr von mir? Wie habt Ihr mich überhaupt gefunden?« Er wandte sich um und ging zur Statue des Daikoku.
Sano folgte ihm. »Hauptmann Nirin hat mir gesagt, wo Ihr zu finden seid.«
Ohiras Schritte stockten. »Ihr wart auf Deshima? Wie seid Ihr auf die Insel gekommen? Euer Pass wurde eingezogen!« Er blickte Sano an; dann schüttelte er den Kopf, als der Miene des sôsakan kein Hinweis zu entnehmen war.
Bevor er zum Tempel gekommen war, hatte Sano den Waffenrock und die Rüstung abgelegt, die er dem Wachsoldaten weggenommen hatte. Seine Kleidung war in der Nachmittagssonne getrocknet, und nur mit dem Kurzschwert an der Hüfte sah er wie ein gewöhnlicher, niederrangiger Samurai aus. Doch er vergeudete keine Zeit damit, Ohira von den Geschehnissen auf der Insel zu berichten; der Kommandant würde früh genug davon erfahren: Die Wachen auf Deshima würden erzählen, was geschehen war – und dann würden sich Soldaten auf die Suche nach Sano machen. Er durfte keine Zeit verlieren.
»Wie ich auf die Insel gekommen bin, spielt keine Rolle«, sagte er. »Wichtig ist allein, was ich dort entdeckt habe.« Er zog die Schriftrolle mit dem Warenverzeichnis und die unfertige Abschrift Ohiras unter seinem Kimono hervor. »Das Tribunal wird sich sehr für diese Unterlagen interessieren, meint Ihr nicht auch?«
Sano sah, dass Ohira die Akten wiedererkannte. Ein Schauder durchlief den Körper des Kommandanten. Dann ging er in die Hocke und drückte den Gebetsstock zu Füßen der Götterstatue inmitten der anderen Stöcke in den Boden. Seine Hände zitterten.
»Also habt Ihr mich jetzt in der Hand«, sagte er mit trauriger Stimme und ließ mutlos die Schultern hängen. Er berührte den Gebetsstab. »Ich habe meine Gebete zu spät gesprochen, als dass sie mir noch erfüllt werden könnten.«
Der Augenblick schien so zerbrechlich wie die kostbare Teeschüssel aus Porzellan, aus der Sano einst im Palast von Edo getrunken hatte: uralt, dünn, beinahe durchscheinend, die Oberfläche krakeliert von der Hitze des Brennofens. Er holte tief Atem und suchte nach den richtigen Worten, um diesen Augenblick zu bewältigen, ohne Schaden anzurichten. »Vielleicht«, sagte er schließlich, »wurden Eure Gebete bereits erhört.«
»Was meint Ihr damit?«, fragte Ohira und wich Sanos Blick aus.
»Ihr habt diese Akten für jeden sichtbar auf Eurem Schreibpult liegen lassen, als hättet Ihr darauf gehofft, jemand würde sie finden und Euch bestrafen, auch wenn eine solche Möglichkeit auf Deshima sehr gering war. Ihr bedauert es nicht wirklich , dass ich die Unterlagen entdeckt habe.« Sano schob die Schriftrolle und die Kopie wieder unter seinen Kimono. »Die Götter sind weise. Manchmal kennen sie unsere tiefsten und geheimsten Wünsche und erfüllen sie uns.«
Ohira stieß ein humorloses Lachen aus. »Und das Werkzeug der Götter seid Ihr? Der Bote meines Schicksals? Glaubt Ihr denn im Ernst, ich wünsche mir öffentliche Schande und einen unehrenhaften Tod? Ganz bestimmt nicht, das kann ich Euch versichern.«
Mit schweren Schritten ging Ohira über den Pfad zum größten Heiligtum der Tempelanlage, einer Hütte aus Holz mit einem Strohdach und einer Veranda mit Geländer; die Hütte stand nicht auf dem Erdboden, sondern erhöht auf hölzernen Pfosten, und war von einem Palisadenzaun umgeben. Sano folgte Ohira die steinerne Treppe zu dem Heiligtum hinauf. »Als Euer Jugendfreund beim Perlentauchen starb, Kommandant«, sagte er und bezog sich damit auf die Geschichte, die Ohira ihm tags zuvor erzählt hatte, »habt Ihr geschworen, Recht und Gesetz zu schützen und andere davon abzuhalten, Verbrechen zu begehen. Doch Ihr habt Euren Schwur gebrochen und dadurch Eure Ehre verloren. Öffentlich gestehen konntet Ihr dieses Vergehen jedoch nicht, weil Ihr dadurch Eure Familie in Gefahr gebracht hättet. Auf der anderen Seite hattet Ihr den sehnlichen Wunsch, für Eure Tat zu sühnen und bestraft zu werden.« Sano hielt inne, als Ohira an dem Seil zog, das vom Dachvorsprung hing, worauf eine Glocke ertönte und den Gott herbeirief. Sano und Ohira ließen ihre Schuhe vor dem Eingang stehen und betraten das Heiligtum. »Ihr könnt es nicht ertragen, dass Ihr lebt«, fuhr Sano fort, »während Euer Sohn sterben soll.«
Im Vorraum des Heiligtums fiel Tageslicht durch die Gitter vor der
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