Die Spur des Verraeters
rief Hirata und fiel vor dem Podium und den verdutzten Richtern auf die Knie. Er war lediglich mit einem Lendenschurz bekleidet; sein Körper war schmutzig und verschwitzt. Doch das Erstaunlichste war, dass er sich den Kopf kahl geschoren hatte. Er verbeugte sich vor den Richtern und sprudelte atemlos hervor: »Ehrenwerte Richter, ich bin gekommen, weil ich euch um das Leben meines Herrn bitten will. Erlaubt mir, seine Unschuld zu beweisen, ich flehe euch an.«
Während Sano hilflos beobachtete, was geschah, umringte der Mob Hirata. »Dieser Mann ist an uns vorbeigerannt, bevor wir ihn ergreifen konnten«, sagte der Offizier des Wachtrupps. »Ich bitte um Vergebung, dass dieser Narr euch unterbrochen hat.« Er wandte sich an seine Leute. »Dieser Mann ist ein flüchtiger Verräter und Mörder. Schafft ihn nach draußen, und tötet ihn.«
Die Soldaten packten Hirata, der sich heftig wehrte, und hoben ihn hoch über ihre Köpfe. »Nein!« Sano sprang auf, doch die Wächter zerrten an seinen Ketten, sodass er schwer zu Boden stürzte, während die Soldaten Hirata an ihm vorübertrugen.
»Wartet«, erklang plötzlich die dröhnende Stimme des obersten Richters Takeda vom Podium her. Die Soldaten blieben stehen. »Bringt den Mann zurück.«
»Was?«, stieß Richter Segawa hervor. »Wieso?«
Takeda beachtete ihn nicht. Die Soldaten ließen Hirata vor dem Podium zu Boden fallen. Sano, der in einem Gewirr eiserner Ketten lag, beobachtete verwundert, wie der oberste Richter Hirata betrachtete. Takedas undurchdringliche, strenge Miene ließ nicht erkennen, was er vorhatte.
»Setzt Euch«, befahl Takeda schließlich. Hirata gehorchte. »Seid Ihr der Mann, der beschuldigt wird, sôsakan Sano bei seinem Verrat unterstützt zu haben? Seid Ihr in das Haus des Schatzmeisters dieser Stadt eingebrochen und habt einen Soldaten getötet?«
Hirata verbeugte sich. »Ja. Aber ich bin unschuldig, und mein Herr ist es auch«, sagte er mit krächzender Stimme. Er räusperte sich und fuhr tapfer fort: »Bitte verzeiht mein Eindringen, ehrenwerter Richter, und erlaubt mir zu erklären …«
»Einen Augenblick!« Der oberste Richter Takeda betrachtete Hirata mit offensichtlicher Faszination. »Wie ich hörte, habt Ihr Euch bis jetzt versteckt gehalten. Was habt Ihr während dieser Zeit getan?«
Glühende Leidenschaft und feste Entschlossenheit lagen in Hiratas Stimme, als er antwortete: »Ich habe Informationen über die Männer gesammelt, die meinen Herrn fälschlicherweise angeklagt haben.«
Für einen Moment schloss Sano verzweifelt die Augen. Nicht einmal als Gejagter hatte Hirata seine Nachforschungen aufgegeben, um den Ruf seines Herrn reinzuwaschen. Sano erkannte, dass er diesen draufgängerischen jungen Burschen wie einen Bruder liebte. Hiratas Treue und Unerschütterlichkeit gereichte einem jeden Samurai zur Ehre. Nun aber würden sie gemeinsam sterben, denn es war offensichtlich, dass Hirata keine wichtigen Beweise besaß, die Sano entlasten konnten.
»Ihr habt gewusst, dass Ihr Tag und Nacht von Soldaten gejagt wurdet und dass Statthalter Nagai Euch bereits zum Tode verurteilt hat?«, fragte Takeda.
»Ja, ehrenwerter Richter.« Falls Hirata Angst hatte, konnte Sano sie nicht entdeckten. In kerzengerader Haltung, den kahl rasierten Kopf stolz erhoben, saß der halb nackte Mann vor dem Podium.
»Dennoch habt Ihr Euer Leben aufs Spiel gesetzt, indem Ihr hierher gekommen seid, um für Euren Herren zu sprechen?«
»Ja, ehrenwerter Richter.«
Für einen Moment spiegelten sich tiefe Gefühle auf dem strengen Gesicht des obersten Richters. » Inshôteki – beeindruckend«, murmelte er, hob einen Ärmel seines Gewandes und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ich hätte nie gedacht, in Zeiten wie diesen einen so ehrenvollen und vorbildlichen Ausdruck des Bushido zu erleben.«
Als Historiker wusste Sano, dass der Weg des Kriegers sich als Antwort auf das veränderte politische Klima in Japan herausgebildet hatte. In Friedenszeiten gab es weder klar umrissene Treuebindungen noch die unverrückbaren Pflichten, die der Krieg einem Samurai auferlegte. Stattdessen waren die Samurai in ein Netz aus zum Teil widerstreitenden Pflichten gegenüber verschiedenen Vorgesetzten, Gönnern und Standesgenossen eingebunden; ungezählte Vergnügungen lockten und lenkten sie von ihren eigentlichen Aufgaben ab, und oft stellten die Samurai der Jetztzeit den Eigennutz über die Selbstaufopferung, wie der Weg des Kriegers sie verlangte.
Weitere Kostenlose Bücher