Bucheckern
Der Rucksack
Fünf Stockwerke und kein Aufzug – auch Oskar Lindt als leitendem Ermittler der Karlsruher Kriminalpolizei blieb in diesem Mietshaus aus den Dreißigerjahren nur das Treppensteigen übrig. Er zählte siebzehn Stufen pro Stock und rechnete schnell aus, dass es bis zur Wohnungstür von Luise Becker im Vierten schon achtundsechzig sein mussten.
Obwohl er meinte, für sein Alter noch eine ganz passable Kondition zu haben, war Lindt etwas außer Atem gekommen. Er verschnaufte erst kurz, bevor er den runden glänzenden Messingknopf drückte, um zu klingeln.
„Kommissar Lindt?“ Fragend öffnete eine zierliche Frau Anfang Siebzig mit umgebundener Küchenschürze. Er nickte und sie zog ihn am Jackenärmel in die Wohnung. „Die Nachbarn, wissen Sie. Ich möchte nicht ...“
„Sie sind bestimmt Frau Becker? Wir haben ja miteinander telefoniert.“ „Ja, Herr Kommissar, hier, von meinem Küchenfenster aus sieht man es besonders gut.“
Sie führte ihn über einen schmalen dunklen Gang in die Küche und schob auf der blankgescheuerten Tischplatte einen kleinen roten Emailletopf mit Linsensuppe beiseite, um das Fenster öffnen zu können.
Die Äste einer alten Platane reichten bis auf einen Meter an die Hauswand heran. „Da, sehen Sie es? Dort, ziemlich weit drin im Baum.“
Lindt sah erst nicht, was die alte Dame meinte, doch dann blieb sein Blick an einem schwarzen Etwas hängen. Er erkannte ein Stück schwarzen, dicken Stoffs und den unvollständigen Schriftzug ›adi...‹. Er reckte seinen Oberkörper aus dem Fenster, so weit es ging und konnte jetzt sehen, dass dort zwischen den schon herbstgelben Blättern ein kleiner Rucksack hing.
„Wissen Sie“, flüsterte hinter ihm Frau Becker, „ich schaue beim Essen immer gern in den Baum. Ich kenne die Vögel, die hier nisten, und gerade jetzt im Herbst sieht es schön aus, wenn sich die Blätter färben. Viele sind schon abgefallen und da habe ich auf einmal die Tasche mit der Aufschrift entdeckt. Den Sommer über konnte man vor lauter Laub ja nichts sehen, aber als ich das rucksackähnliche Teil jetzt bemerkte, kam mir gleich die traurige Sache mit dem kleinen Patrick in den Kopf. Der Albert, sein Großvater, der wohnt doch unten im zweiten Stock.“
Oskar Lindt nickte. Es war ihm gleich klar, worauf die Frau hinauswollte. Er griff zum Handy, um die Spurensicherung und ein Drehleiterfahrzeug der Feuerwehr zu bestellen.
Vor einigen Monaten hatte der Vorstehhund eines Jägers den zwölfjährigen Patrick gefunden. Zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt, nördlich von Leopoldshafen, in einer ehemaligen Trockenbaggerungsfläche, die man nach dem Kiesabbau mit Kiefern wieder aufgeforstet hatte, lag die dick mit Fliegenmaden besetzte Leiche des Jungen. Auch Lindt, der in seiner Dienstzeit schon manches gesehen hatte, musste bei dem Anblick damals heftig schlucken, um sich nicht zu übergeben.
Patrick hatte am 15. Mai nach der Schule, wie er es öfter tat, den Nachmittag mit seinem Großvater verbracht, war danach aber nicht nach Hause gekommen. Weil die Eltern beide berufstätig waren, konnten sie es erst abends bemerken. Nachdem sie alle Freunde des Jungen und auch die Verwandten ohne Erfolg abtelefoniert hatten, erstatteten sie gegen einundzwanzig Uhr eine Vermisstenmeldung beim Polizeirevier Oststadt.
Der Obduktionsbericht der Heidelberger Gerichtsmedizin las sich damals recht nüchtern:
Todesursache: Gehirnblutung, verursacht durch einen Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen, schweren Gegenstand. Der Todeszeitpunkt lag zirka 14 Tage vor dem Auffinden der Leiche und der Junge war nicht am Fundort getötet, sondern nach seinem Tod dort hin transportiert worden. In der Kopfwunde konnten die Pathologen einige Zinkpartikel nachweisen.
Er war vollständig bekleidet mit einem marinefarbenem T-Shirt, Jeans der Marke ›Mustang‹ und Turnschuhen aufgefunden worden, nur ohne den schwarzen Rucksack mit der Aufschrift ›adidas‹, den er als Schultasche benutzte. Bei der Fahndung hatte sich die Polizei daher von diesem Stück besonders viel versprochen und ein großes Bild des Modells in Fernsehen, Presse und auf Plakaten veröffentlicht.
„Der Patrick kam oft hierher zu seinem Großvater“, unterbrach Luise Becker die gedankliche Rückblende des Kommissars. „Wenn seine Eltern arbeiteten, machte er auch die Schularbeiten hier und oftmals fuhren Opa und Enkel zusammen nachmittags zum Angeln an den Rhein hinaus.“
Lindt überlegte
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