Die Spur des Verraeters
Silhouetten seiner zwei Schwerter zeichneten sich deutlich vor dem Hintergrund des weißen Kiesweges ab. Irgendwo in der Dunkelheit hinter diesem Mann waren dumpfe Schläge, kratzende Geräusche und gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Sanos Puls ging vor Aufregung schneller. Er konnte zwar kein Wort verstehen, erkannte aber den mittlerweile vertrauten Klang der holländischen Sprache, in den sich hin und wieder eine japanischen Stimme mischte. Offenbar hatten die Schmuggler soeben die Ware gebracht. Waren die Barbaren mit ihnen gekommen?
Sano bedeutete seinen Gefährten, ihn zur Rückseite der Hauptgebetshalle zu begleiten, wo sich dem Klang der Stimmen nach die Verbrecher versammelt hatten. Sano hatte bereits mehrere Schritte getan, als ihm plötzlich auffiel, dass Ohira sich nicht bewegt hatte. Die anderen Männer, von Hirata angeführt, rannten bereits durch den Garten und versteckten sich hinter dem Glockenturm. Nach einem unruhigen Blick auf den Posten gab Sano den Gefährten zu verstehen, dass sie warten sollten. Dann eilte er zu Ohira zurück.
»Was ist?«, fragte er flüsternd.
»Ihr braucht mich jetzt nicht mehr.« Ohira wandte das Gesicht ab. »Geht, und lasst mich in Frieden.«
Doch Sano konnte und wollte den Kommandanten nicht allein lassen. Ohira verhielt sich so seltsam … was, wenn er die Schmugglerbande warnte? »Kommt«, sagte Sano und zerrte den Kommandanten mit zu den anderen.
Indem sie sich von Baum zu Baum, von Felsblock zu Felsblock und von Statue zu Statue bewegten, gelangten sie an der Pagode vorbei und umrundeten die Hauptgebetshalle. Sano hielt den taumelnden Ohira fest, der nur sehr langsam vorankam. Die Geräusche wurden lauter, und Sano hörte Gesprächsfetzen: »Vorsichtig jetzt … lass es nicht fallen …« Als er mit Ohira die Rückseite der Halle erreichte, versteckten sie sich bei den Gefährten, die bereits hinter einem Pavillon mit strohgedecktem Dach und Wänden aus hölzernem Gitterwerk Deckung gesucht hatten. Laternen erleuchteten den Hintereingang der Hauptgebetshalle. Zwei Samurai, die eine große Holzkiste trugen, stiegen mit unsicheren Schritten die Treppe zur Veranda hinauf, wo bereits ein dritter Mann wartete.
»Beeilt euch«, sagte der Unbekannte. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«
»Nirin«, flüsterte Hirata.
Die beiden Samurai trugen die Holzkiste durch den geöffneten Hintereingang in das hell erleuchtete Innere der Gebetshalle.
»Wie ich sehe, habt Ihr Recht behalten, sôsakan Sano«, sagte Richter Takeda, und seine beiden Kollegen pflichteten ihm mit einem missmutigen Grummeln bei. Takeda und die Gefolgsleute zogen ihre Schwerter. »Es wird uns ein Vergnügen sein, Euch bei der Festnahme dieser Verbrecher zu helfen.«
»Wartet noch!«, hielt Sano die Männer zurück, denn er hatte auf der linken Seite der Gebetshalle Licht gesehen. Durch ein Tor in der Tempelmauer kam ein größerer Trupp Samurai heran; einige trugen Kisten, andere leuchteten mit Fackeln den Weg. Aus der entgegengesetzten Richtung näherten sich zwei weitere Samurai. Sie führten eine Gruppe von Männern, die Umhänge und Hüte, aber keine Schwerter trugen. Sie alle versammelten sich vor dem Hintereingang der Gebetshalle; dann erschien Hauptmann Nirin und winkte den Männern ungeduldig, in die Halle zu kommen.
»Gehen wir hinein«, flüsterte Sano, der mindestens zehn Samurai vor dem Eingang gezählt hatte. Wie viele weitere mochten sich im Inneren der Halle aufhalten? Die unbewaffneten Männer in den Umhängen mochten keine große Bedrohung darstellen; aber Sano und seine Gefährten waren dem Gegner zahlenmäßig unterlegen. Überdies bezweifelte Sano, dass die Schmuggler sich ohne Gegenwehr ergeben würden; wahrscheinlich würden sie genau so erbittert kämpfen wie damals Miochin und die Leichendiebe. Sano rechnete damit, dass Ohira ihnen keine Hilfe war, und auch die Richter Segawa und Dazai waren bestimmt keine großen Kämpfer. Blieben also nur noch Takeda, ein alter Mann; Hirata, der nach drei Tagen Flucht müde und erschöpft sein musste; die vier Gefolgsleute, deren Fähigkeiten als Schwertkämpfer fraglich waren, und Sano selbst, verwundet und ausgelaugt. Ihr einziger Vorteil war das Überraschungsmoment.
Sano beobachtete, wie die Neuankömmlinge die Halle betraten. Nirin folgte als Letzter und schloss die Tür. Ein Samurai blieb als Wachposten auf der Veranda. Die plötzliche Stille wurde von den Gesängen der Grillen und Frösche gefüllt. »Takeda-san«, sagte Sano,
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