Die Spur des Verraeters
Schiff fuhr nun an einer großen Insel vorüber, die wie ein Berg vor der Hafeneinfahrt emporragte. »Das ist Takayama«, sagte Sano. »Während der Christenverfolgungen vor etwa hundert Jahren wurden Priester von den Klippen gestürzt. Und die kleinere Insel da vorn muss der Verbrennungsplatz sein, auf dem feindliche Schiffe angezündet wurden.«
Als Sano an diese längst vergangenen Geschehnisse dachte, fühlte er, wie eine alte, schlummernde Leidenschaft in ihm erwachte: die Liebe zur Geschichte. Als junger Schüler der Mönche im Zôjô-Tempel war Sano in den verbotenen Teil der Bibliothek geschlichen, wo er Schriftrollen entdeckte, die über die Beziehungen Japans zu ausländischen Mächten in den letzten zweihundert Jahren berichtet hatten; fasziniert las der junge Sano von den weißhäutigen, haarigen Barbaren – bis der Abt ihn erwischt hatte. Sano schmerzte noch heute das Hinterteil, als er an die Prügel dachte, die ihm verabreicht worden waren. Doch ungeachtet vieler Gefahren und Entmutigungen war seine Neugier geblieben, was die Barbaren betraf. Die Gesetze untersagten jedem Japaner – abgesehen von den vertrauenswürdigsten Persönlichkeiten –, Kontakte zu den Europäern zu pflegen, denn der bakufu befürchtete, dass die fremdländischen Menschen Aufstände entfachen könnten, wie es in der Vergangenheit bereits der Fall gewesen war, und dass Japan letztendlich unter fremde Herrschaft fiel. Ausländische Bücher waren ebenso verboten wie Bücher über das Ausland. Insofern boten Sanos hoher Rang und seine unwillkommene Abkommandierung nach Nagasaki ihm immerhin die Möglichkeit, endlich mit eigenen Augen die legendären Barbaren zu sehen, die angeblich goldenes Haar und Augen von der Farbe des Himmels besaßen und sich auf die seltsamste Weise kleideten. Unter seiner Schärpe versteckt trug Sano ein Schriftstück, das es ihm erlaubte, die sprachliche Kluft zwischen ihm und den Barbaren zu überbrücken.
Sanos engster Freund war Dr. Ito Genboku, ein Arzt, der dazu verurteilt worden war, den Rest seines Lebens als Aufseher der Leichenhalle des Gefängnisses von Edo zu verbringen. Dr. Ito, der einstige Leibarzt der kaiserlichen Familie, hatte sich des Verbrechens schuldig gemacht, die verbotenen fremdländischen Wissenschaften studiert zu haben. Der alte Arzt hatte Sano häufig bei Nachforschungen in Mordfällen geholfen; außerdem hatte er seine verbotenen wissenschaftlichen Studien weitergeführt, indem er ausländische Bücher las, die er über dunkle Kanäle von holländischen Händlern in Nagasaki bezog. Sano, der in den letzten Stunden vor der Abreise aus Edo von Yanagisawas Männern unter Hausarrest gehalten worden war, hatte Hirata zu Dr. Ito geschickt, um dem Arzt seine Abschiedsgrüße überbringen zu lassen. Hirata war mit einer Botschaft zurückgekehrt:
Sano-san ,
zu meinem großen Bedauern habe ich von Eurer plötzlichen Abreise erfahren . Um Euch den Aufenthalt in Nagasaki interessanter zu gestalten , habe ich Euch ein Empfehlungsschreiben an Dr . Nicolaes Huygens beigelegt , meinen lieben holländischen Freund und vertrauenswürdigen Informanten , was die fremdländischen Wissenschaften angeht . Ich bin sicher , Ihr werdet seine Gesellschaft genießen – so wie ich mich am Briefwechsel mit Nicolaes erfreut habe . Ich hoffe , das Schicksal erlaubt Euch eine rasche und sichere Heimkehr nach Edo .
Ito Genboku
In dem Brief lag ein zusammengefaltetes Papier mit seltsamen Kritzeleien, die Sano für holländische Schriftzeichen hielt. Doch er musste auf der Hut sein. Jede Begegnung mit Ausländern konnte eine Anklage wegen Hochverrats nach sich ziehen.
»Was mag da los sein?«, sagte Hirata und riss Sano aus seinen Gedanken.
Er blickte in die Richtung, in die der ausgestreckte Arm seines Gefolgsmannes wies, und sah Gestalten hoch oben auf den Spitzen der Klippen, die einander aufgeregt und mit gellenden Stimmen etwas zuriefen. Dann näherte sich mit hoher Geschwindigkeit eine Schaluppe; an Deck drängten sich Samurai, und die langen Reihen der Ruder zu beiden Seiten des Rumpfes bewegten sich in stetigem Rhythmus.
»Ah, die Hafenpatrouille. Das wurde aber auch Zeit!«, sagte der Kapitän und rief zur Schaluppe hinüber: »Wir sind die Abgesandten des Shogun und verlangen ein offizielles Geleit in den Hafen! Wir … He, wo wollt ihr hin? Bleibt stehen!« Die Schaluppe fuhr mit hoher Geschwindigkeit am Segler vorüber. Zwei weitere Schaluppen folgten, doch keines der
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