Die Spur des Verraeters
Morgenluft.
Wenngleich auf den Straßen das alltägliche Gewühl herrschte, entging es Sano nicht, dass fieberhaft nach dem verschwundenen Holländer gesucht wurde. Berittene Samurai in voller Rüstung riefen den Fußgängern scharfe Befehle zu oder stellten ihnen mit schroffer Stimme Fragen. »Ist ein ausländischer Barbar hier entlanggekommen? Sagt uns sofort Bescheid, wenn ihr ihn seht!«
Fußsoldaten durchsuchten Häuser und Läden und riefen warnend: »Wer dem holländischen Barbaren hilft oder ihn versteckt, hat sein Leben verwirkt!«
Die Soldaten gingen dermaßen resolut vor, dass Sano befürchtete, sie könnten die Nerven verlieren und unschuldige Einwohner niedermetzeln, falls der vermisste Holländer nicht bald gefunden wurde. Er verspürte den Wunsch, aus seiner gepolsterten Sänfte zu springen und sich an der Suche nach dem Barbaren zu beteiligen. Damit aber würde er gegen die Befehle Kammerherr Yanagisawas verstoßen; außerdem hatte er ohne Erlaubnis des Statthalters von Nagasaki kein Recht, sich in diese Sache einzumischen. Verzweifelt biss er die Zähne zusammen und ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste.
Die Sänfte wurde über eine Holzbrücke getragen, die einen Fluss überspannte, der zwischen hohen, gemauerten Uferbefestigungen hindurch strömte. Hier, oberhalb des Viertels der Händler, waren die Straßen breiter und weniger bevölkert; die meisten Passanten waren Samurai. Herrschaftliche Villen mit Ziegeldächern – von langen, flachen Kasernen umgeben, in denen Wachmannschaften wohnten –, säumten die Straßen. An den bewachten Eingangstoren sah Sano die Wappen der daimyo von Kyûshû. Auch aus diesen Toren kamen Soldatentrupps geeilt, um sich an der Suche nach dem verschwundenen holländischen Barbaren zu beteiligen.
Schließlich kamen die drei Sänften und ihr Geleitschutz vor einem reich verzierten Tor mit Ziegeldach zum Stehen. Hinter den Kasernengebäuden erklangen die barschen Rufe von Männern und das Hufestampfen und Wiehern von Pferden.
»Ich komme mit den Gesandten des Shogun, die Statthalter Nagai zu sehen wünscht«, hörte Sano den schwarz gekleideten Beamten zum Befehlshaber der Torwächter sagen.
Kurz darauf wurden die Besucher von bewaffneten Soldaten auf einen überfüllten Innenhof geführt. Als Sano aus der Sänfte stieg, sah er Fußsoldaten und Berittene, die sich zum Abmarsch formierten. »Sucht den Barbaren in den Hügeln«, befahl ein Offizier. »Ergreift ihn lebend, wenn ihr ihn aufspürt. Wir müssen jede Missstimmung zwischen Japan und den ausländischen Staaten vermeiden.«
An einem Wachhäuschen neben dem Tor wurden sämtliche Personen überprüft; sobald jemand das Anwesen des Gouverneurs betrat, hängten die Posten ein hölzernes Brett mit dem Namen des Betreffenden an eine Tafel; wenn jemand das Grundstück verließ, wurde das entsprechende Brett von der Tafel heruntergenommen.
»Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.« Der Beamte aus Nagasaki führte Sano, Hirata und den Kapitän in die verschachtelte, zweistöckige Villa des Statthalters mit ihren Gitterfenstern und den Mauern aus Fachwerk. In der Eingangshalle ließen die Besucher ihre Schuhe und Schwerter zurück. Dann gingen sie einen Flur hinunter und an Zimmern vorüber, in denen Offiziere über Karten gebeugt standen und lautstarke Streitgespräche führten; in anderen Räumen saßen Sekretäre und schrieben Berichte über die Katastrophe, dass ein Barbar von Deshima flüchten konnte. Am Ende des Flures, neben einer geöffneten Tür, die hinaus in einen Garten führte, standen zwei Männer.
Einer mochte um die fünfzig sein – ein Mann mit breiten Schultern und kräftigen Armen. Obwohl er zornig auf und ab stapfte, besaß er eine elegante, ja anmutige Ausstrahlung. Er trug zwei reich verzierte Samuraischwerter an der Hüfte. Sein rostfarbener Seidenkimono mit den aufgestickten goldenen Gingkoblättern hob seine rötliche Gesichtsfarbe hervor. Sein Scheitel war kahl rasiert, und sein ergrauender, mit Öl eingeriebener Haarzopf schimmerte feucht.
»Wenn wir ihn nicht schnellstens finden, ergeht es uns schlecht!«, stieß er wütend hervor. Trotz seines Zorns besaß die Stimme des Mannes einen weichen, melodischen Klang – wie die Stimme eines Schauspielers, der in einem Kabuki-Drama heftige Gefühle zum Ausdruck bringt. Mit dem Ärmel wischte er sich über die schweißfeuchte Stirn. »Was für eine Katastrophe!«
Der andere Mann war ein schlicht gekleideter Samurai mit aschgrauem Haar und
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