Die Spur des Verraeters
Gefangenseins, das Sano im Palast stets überkam. Er betete zu den Göttern, der Shogun möge ihn mit der Aufklärung eines neuen Verbrechens betrauen und nicht mit einer weiteren Jagd nach Geistern oder dem Auftrag, als Spitzel zu arbeiten. Als Sano sich einem strohgedeckten Pavillon näherte, blieb er plötzlich erschreckt stehen.
Kammerherr Yanagisawa Yoshiyasu – nächst dem Shogun der mächtigste Mann im Lande – befand sich in der Mitte des Pavillons auf dem erhöhten Holzfußboden. In einem leichten, blau und elfenbein gemusterten Sommerkimono aus Seide, kniete er vor einem großen Blatt weißen Papiers, über dem ein Tuschepinsel schwebte, den Yanagisawa in seiner schmalen, schön geformten Hand hielt. Neben ihm wartete ein Diener und stand bereit, das Tuschefässchen und die Wasserschüssel nachzufüllen oder dem Kammerherrn ein neues Blatt Papier von einem großen Stapel zu reichen. Zu beiden Seiten des Kammerherrn knieten die fünf Männer, die den Rat der Ältesten bildeten; sie waren die engsten Ratgeber des Shogun – und Yanagisawas willige Handlanger. Weitere Diener standen mit Fächern um die Gruppe herum und wedelten Yanagisawa und den alten Männern kühle Luft zu. Tokugawa Tsunayoshi, der Shogun, war nirgends zu sehen.
Kammerherr Yanagisawa ließ den Tuschepinsel mit raschen, schwungvollen Bewegungen über das Papier huschen und setzte mehrere Schriftzeichen untereinander. »Ah, sôsakan-sama «, sagte er mit falscher Freundlichkeit zu Sano, »wollt Ihr Euch nicht zu uns gesellen?«
Sano stieg die Stufen zum Pavillon hinauf, kniete nieder, verbeugte sich in der Hüfte und begrüßte die Versammelten mit förmlichen Floskeln. »Ehrenwerter Kammerherr«, sagte er dann, »ich bin gekommen, um dem Shogun Bericht zu erstatten.« Furcht und Unruhe ließen Sano die Brust eng werden. Yanagisawas Anwesenheit während einer Audienz beim Shogun hatte nie etwas Gutes zu bedeuten.
Der Kammerherr betrachtete den Vers, den er niedergeschrieben hatte. Er runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und bedeutete dem Diener, das Blatt Papier fortzunehmen. Dann schaute er Sano an. Yanagisawa, zweiunddreißig Jahre alt, war seit seiner Jugend der Geliebte des Shogun. Schlank und hoch gewachsen, mit fein geschnittenem Gesicht und großen ausdrucksvollen Augen, war der Kammerherr von einnehmender männlicher Schönheit, die in krassem Widerspruch zu seinem verderbten Charakter stand.
»Ich fürchte, seine Hoheit ist zur Zeit unabkömmlich«, erklärte er. »Was immer Ihr zu sagen habt, sagt es ruhig mir.«
Sein umgänglicher Tonfall konnte seine tiefe Feindseligkeit nicht verbergen. Seit Sano das Amt des sôsakan bekleidete, betrachtete Kammerherr Yanagisawa ihn als Rivalen um die Gunst Tokugawa Tsunayoshis, als Gegner im Kampf um die Macht über diesen schwachen Shogun und damit um die wahre Herrschaft über das Land. Yanagisawa hatte versucht, Sanos Nachforschungen bei den Bundori-Morden zu sabotieren, als ein Verrückter seinen Opfern die Köpfe abgeschlagen und auf Bretter genagelt hatte, die er anschließend an öffentlichen Orten zur Schau stellte. Der Kammerherr hatte sogar Männer gedungen, die seinen Rivalen ausschalten sollten, doch Sano hatte überlebt und den Bundori-Mörder schließlich überführt. Unglücklicherweise war Yanagisawa dabei durch Zufall in eine Falle getappt, die Sano dem Täter gestellt hatte; der geisteskranke Mörder hatte den Kammerherrn als Geisel genommen, hatte ihn misshandelt und gedemütigt, bis Sano ihn schließlich befreien konnte. Der Vorfall war eine unbeabsichtigte Kränkung Yanagisawas gewesen, die der Kammerherr Sano niemals vergeben würde.
»Seine Hoheit hat mir befohlen, ihm nach meiner Rückkehr in den Palast persönlich zu berichten«, sagte Sano nun, denn er wusste, dass Yanagisawa ihm absichtlich den Weg zu Tokugawa Tsunayoshi zu versperren versuchte. Nach dem Vorfall mit dem Bundori-Mörder hatte Sano eine Zeit lang sogar Verständnis für den Zorn des Kammerherrn aufgebracht – bis dieser seinen Rachefeldzug begonnen hatte: Seit nunmehr einem Jahr verbreitete Kammerherr Yanagisawa boshafte Gerüchte über Sano. Es war von Trunksucht die Rede, von sexuellen Perversionen und Ausschweifungen, von Unterschlagung bis hin zum Ungehorsam gegenüber dem Shogun und Verrat am bakufu . Sano hatte viel Zeit und Geld aufbringen müssen, um sich gegen diese Verleumdungen zu wehren und mittels großer Bestechungssummen die Hilfe von Personen zu erlangen, die ihn entlastet
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