Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
Schatten.
Doch vorher sehe ich noch das rohe Fleisch an ihrem Handgelenk, ein Kreis, eitrig von der Infektion. Um dieWunde herum ist das Fleisch geschwollen und nässt – ich erkenne, dass es sich um einen Biss handelt. Wieder zücke ich mein Messer, halte es zwischen uns, es darf nicht zittern.
Normalerweise bin ich recht gut darin, Konfrontationen mit den Ungeweihten zu vermeiden. Ganz gleich, wie vorsichtig man auch sein mag, immer besteht das Risiko, dass es ihnen doch irgendwie gelingt zuzubeißen.
Die Frau zuckt mit den Schultern und inhaliert den Rauch. Das Licht lässt ihre Haut wieder erglühen, und ich sehe, wie ihre Hand zittert. Risse ziehen sich durch den Puder, mit dem sie versucht hat, ihrer alten Haut ein blühendes, frisches Aussehen zu geben – doch sie sieht wie ein gesprungener Spiegel aus.
Ich denke an mein eigenes Gesicht, an die Narben, die die linke Seite meines Körpers überziehen wie ein Spinnennetz. Die Risse dieser Frau können weggewaschen werden. Meine nicht.
Man erkennt sofort, dass sie dem Ende nahe ist – die Infektion wird sie töten. Ich schaue wieder auf den Haufen Leiber in der Schlucht, ihr schwaches Stöhnen dringt zu uns herauf. Bald wird diese Frau eine von ihnen sein.Wenn sie Glück hat, kümmert sich jemand um sie, bevor sie sich wandelt.Wenn sie nicht …
Ich schlucke.
Mit einer übelkeiterregenden Schwere im Bauch wird mir klar, dass ich diejenige bin, die sie töten müssen wird. Das bringt mich aus dem Gleichgewicht, ich trete ein paar Schritte vom Rand des Daches zurück, plötzlich macht mich die große Höhe unsicher.
Das letzte Abendlicht streift meinen Körper, schenkt mir noch diese eine warme Berührung, ehe es für eine weitere ewige Nacht verschwindet. Die Frau schaut nicht auf mein Messer, sondern auf mein Gesicht, meine Narben.
Sie atmet, doch ihre Brust hebt sich kaum, als sie sagt: »Es gibt Männer, die mögen solche wie dich … so kaputte.« Sie nickt. Dann lässt sie den Blick an mir vorbei und über die Insel ziehen, hin zu den R uinen der größeren Gebäude der Dunklen Stadt in der Ferne.
Nein, tun sie nicht, denke ich.
Sie atmet eine in der leichten Brise schwebende Rauchfahne aus. »Aber wahrscheinlich wollen sie das Kaputtmachen am liebsten selber übernehmen.« Sie legt den Daumen auf den Mundwinkel, so als wollte sie verschmierten Lippenstift wegwischen. Dabei trägt sie gar keinen mehr, es ist eine Geste aus Gewohnheit, die längst sinnlos geworden ist.
Ich sollte etwas sagen. Ich sollte beruhigen, trösten, hilfreich sein. Diese Frau ist infiziert, sie hat die letzten Augenblicke ihres Lebens vor sich – und mir wird klar, wie absolut nutzlos ich bin angesichts des Ungeheuerlichen, das hier vorgeht . A lso räuspere ich mich nur. Wie in allerWelt soll ich wissen, was dieser FrauTrost spenden könnte?
Ich schaue zurück über das Dach, über das ich gegangen bin. Es wäre ganz leicht für mich, einfach wieder dahin zu gehen, wo ich hergekommen bin – und es einem anderen zu überlassen, sich um diese Frau zu kümmern . A ber das kommt mir unnötig grausam vor. Immerhin bin ich auf dieser Insel genauso allein wie sie.Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich mir vielleicht am Ende auch jemanden wünschen, der mir zuhört.
Sie zupft am Rand der Bisswunde, reibt die aggressiven roten Streifen der Blutvergiftung, die sich an ihrem Arm entlangziehen. »Hast du einen Mann?«, fragt sie. »Bist du verliebt?« Sie klingt nervös, als ob es ihr peinlich wäre. Sie scheint zu verstehen, was ich machen werde, und will das Unvermeidliche nur ein wenig hinauszögern.
Ihr Interesse verblüfft mich. »Ich habe einen …« Ich stolpere über dasWort, dann hauche ich »Bruder«. Das ist die Lüge, die Elias und ich allen erzählt haben, damit es einfacher für uns ist, in der Dunklen Stadt zusammenzuleben. Wir sagen das schon so lange, dass es sich anfühlt wie dieWahrheit.
»Er hat sich den R ekrutern angeschlossen.«
»Wann?« Sie zieht die Augenbrauen zusammen.
Die Frage ist wichtig – wenn er vor der R ebellion angetreten ist, heißt das, er wollte dieWelt zum Besseren verändern.Wenn er danach zu den R ekrutern gegangen ist, dann ist er ein Sadist, der es genießt, Menschen ohne Hoffnung unter der Fuchtel zu haben.
»Vor drei Jahren.« Ich habe nur selten laut aussprechen und zugeben müssen, wie lange er schon weg ist. Früher konnte ich einfach einenTag nach dem anderen hinter mir lassen, von einem Morgen zum anderen leben, ohne
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