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Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan
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Nicht so, wie sie am Ende war, als sie in den Schatten kauerte, sondern wie sie beim Fallen aussah, mit dem gelösten Lächeln und dem Wissen, dass ihr Elend nun zu Ende war.
    Auf der Straße stöhnen die Pestratten, und aus einem Fenster unter mir höre ich Frauen Witze reißen und Männer lachen. Sie findenTrost beieinander. Der Geruch ihres Schweißes und ihrer Armut hängt schwer in der Luft, während ich in der Dunkelheit hocke und die Frau zeichne. Ich mache sie schön, ich lasse sie durch die Luft fliegen, als ob die Schwerkraft es nie wagen würde, sie mit ihrem Wirken zu beschmutzen.
    Es ist ein Rausch. Ich habe das Gefühl, die Kontrolle über mich wiederzugewinnen, die die Frau mir genommen hatte. Und als es vorbei ist, trete ich zurück und stelle fest, dass ich irgendwann aufgehört habe, eine Fremde zu malen, sondern mich selbst abgebildet habe. Nicht so, wie ich jetzt bin, nicht narbenübersät, mit strähnigen blonden Haaren, die mir ins Gesicht hängen. Sondern so, wie ich hätte sein können, wenn ich an jenemTag imWald meine Schwester nicht verlassen hätte.
    Die Frau hatte mich gefragt, wie ich mir mein Leben wünschen würde, wenn alles möglich wäre. Darauf verwende ich schon lange keinen Gedanken mehr, abgesehen davon, dass ich mich nach Elias’ R ückkehr sehne. Damals, als wir in die Dunkle Stadt kamen, hatte ich gesagt, dass ich zurück nach Hause in mein Dorf imWald wollte, aber das habe ich dann irgendwann unterwegs vergessen. Das tägliche Leben hat mich blind gemacht fürTräume.
    Genau wie diese Stadt war auch ich mal etwas. Früher war ich ein Mädchen, das morgens gern aufgestanden ist und das etwas für Leidenschaft übrighatte. Doch in den letzten drei Jahren – sogar noch länger eigentlich – bin ich erstarrt, unfähig zu akzeptieren, dass sich das Leben um mich herum ohne meine Zustimmung verändert hat.
    Erschöpft und in Gedanken versunken wende ich mich von der Mauer ab und mache mich auf denWeg zurück zu meinerWohnung, ich brauche die vertraute Umgebung, um mich daran zu erinnern, warum ich immer noch hier bin.
    Warum ich mir erlaubt habe, hier wartend herumzusitzen.
    Die Schwärze der Nacht legt sich schwer auf meine Schultern, als ich weiter auf die Dunkle Stadt zugehe. Ich husche über Brücken und reihe mich in die Schlange von Leuten ein, die vor der Palisade ansteht, um in die eigentliche Stadt zu gelangen. Unsichtbar komme ich mir vor, alle um mich herum sind mit ihren eigenen Probleme beschäftigt, niemand nimmt Notiz von einem namenlosen Mädchen, das den Blick auf den Boden heftet.
    Schließlich hetze ich an dem Schutthaufen vorbei, der einmal der Flügel des Gebäudes gewesen ist, in dem unsereWohnung liegt, und klettere die Feuerleiter hinunter, dann schlüpfe ich durch das Fenster in die Leere meines Zuhauses. Kahle Wände, rissiger Fußboden und Staub, der alles bedeckt.
    Nichts Persönliches, nur der Quilt, der zerknüllt am Fußende des Bettes liegt. Dort ist er gelandet, nachdem ich ihn heute Morgen weggestoßen habe. Ich wickele mich darin ein, vergrabe mein Gesicht in dem dünn gescheuerten Stoff, dessen Farben mal so geleuchtet haben – der einmal nach ihm gerochen hat.
    Normalerweise kommt der Schlaf schnell und leicht. Normalerweise will ich nur in gesichtsloseTräume gezerrt werden, aber heute Nacht nicht.
    Heute Nacht denke ich an die Frau. Draußen ziehen die Sterne über den Himmel. Der Schlaf kommt nicht, nur die kalte Leere derWohnung will mich überwältigen.
    Kein anderer Herzschlag leistet mir Gesellschaft. Keine Stimme hält die Schwärze der Nacht fern. Niemand ist da, mit dem ich die langenTage teilen kann.
    Und ich begreife, dass ich schon zu lange versuche zu vergessen, dass ich denTeil meiner selbst verloren habe, der jemand anderem gehört hat – dass ich einmal die Hand meiner Schwester gehalten und auf dem Schoß meinesVaters gesessen habe und die Namen meiner Nachbarn kannte . A n diese Stelle habe ich eine Leere treten lassen. Die Frau heute Abend hat mir deutlich gemacht, welches Loch Elias in mir hinterlassen hat. Ich habe jetzt lange genug darauf gewartet, dass er nach Hause kommt. Er ist weg. Und ich bin allein. Während ich hier in meiner leerenWohnung kauere und dem Stöhnen der sterbenden Stadt um mich herum lausche, fällt mir wieder ein, was ich wirklich will.
    Ich will denWeg zurück nach Hause finden, zu meiner Schwester, meiner Familie und meinem Dorf imWald derTausend Augen.

2
    E s gibt nur zwei Möglichkeiten,

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