Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
diejenigen, die die Insel verlassen, und eine für die, die hineinwollen. Ein Drahtzaun teilt die Brücke in der Mitte und hält die Kommenden und die Gehenden auseinander. Eine Glocke läutet, die Türen öffnen sich, und die Leute gehen von einer Schleuse in die nächste, dann schließen sich die Türen wieder, und wir warten in einem Pferch, bis ein weiteres Glockensignal ertönt.
Leute drängeln sich an mir vorbei, Ellenbogen bohren sich mir in Arme und R ücken. Ich trage den größten Teil der Kleider, die ich besitze: dicke Hosen unter einem R ock, drei Hemden in Lagen und einen alten Mantel, der mir bis über die Schenkel reicht . A uf dem R ücken trage ich den kleinen R ucksack mit meinem alten Quilt, das Messer habe ich an die Hüfte geschnallt. Ich hatte befürchtet, dass mir alles andere weggenommen werden würde. Die Sonne brennt, und unter den Kleiderschichten ist meine Haut glitschig vom Schweiß, für einen Wintertag ist es ungewöhnlich warm.
Die Tür zur nächsten Schleuse öffnet sich, und ein Mann drängt sich grob an mir vorbei, als ich hindurchgehen will . A ls ich mit den Händen an der Stahlwand Halt suche, sehe ich sie durch den trennenden Drahtzaun, wie sie Richtung Insel geht.
Oder besser gesagt, ich sehe mich.
Die Menge murrt, als ich zögernd imTor stehen bleibe und versuche, noch einen Blick auf das Mädchen zu werfen. Schließlich schubst mich jemand heftig, aber ich rühre mich nicht von der Stelle und drücke meine Hände gegen die Tür. Mein Blick streift jedes Gesicht, ich frage mich schon, ob ich mich vielleicht geirrt habe, aber dann sehe ich sie wieder, genau auf der anderen Seite des Zaunes betritt sie die Schleuse, die ich gerade verlasse. Ihr Haar ist lang und blond, die Sonne hat es beinahe weiß gebleicht.
Sie geht mit hoch gerecktem Kinn, so als hätte sie sich nie um irgendetwas sorgen müssen. Sie scheint keine Ahnung von der Gefahr zu haben, die ihr sauberes, gutes Aussehen anzieht. Niemand schubst sie oder bringt sie zum Stolpern, sie gleitet einfach dahin, als würde sie erwarten, dass dieWelt ihr Platz macht.
Ihr Blick gleitet über die Menge und geradewegs über mich hinweg, als ob ich nicht existieren würde.
Natürlich, deshalb habe ich mein Gesicht ja auch hinter den Haaren versteckt. Deshalb ziehe ich die Schultern hoch und trage triste Farben. Ich soll ja unsichtbar sein. So bin ich . A ber nicht für sie. Für sie doch nicht. Sie sollte in der Lage sein, mich noch in tiefster Dunkelheit zu finden. Sie sollte mich hier in der Menge fühlen können, so wie ich sie fühle.
Sie ist meine Schwester. Ihr Gesicht ist mir so vertraut wie mein eigenes … weil es mein eigenes ist. Die Brust schnürt sich mir zu, ich bekomme kaum Luft. Mir wird schwindelig, ich halte mich am Türrahmen fest, und wer immer hinter mir ist, nutzt die Gelegenheit und schiebt mich gewaltsam hindurch.
Ich drehe mich gegen den Strom, versuche mich zurückzukämpfen, aber sie sind beharrlich und zu viele, sie drängen voran, strömen ohne Unterlass durch die Tür, während ich gegen die Menschenmenge ankämpfe. Nichts an diesem Augenblick fühlt sich richtig an. Ich kämpfe darum, noch einen Blick auf das Mädchen werfen zu können, denn ich weiß, ich muss mich irren.Trotzdem wird das Fünkchen Hoffnung in mir entfacht.
Schreien will ich, Aufmerksamkeit auf mich lenken, aber dieWarnglocke ertönt, und die Menge flutet voran. Dann schließen sich die Türen ächzend, und das Mädchen ist weg.
Starr stehe ich da und versuche zu verstehen, was da eben passiert ist, versuche, ruhig zu atmen und die Puzzleteile in meinem Kopf zusammenzufügen. Der schnelle Blick reichte aus, sie hat mein Gesicht. Meine Nase. Meine grünen Augen. Sie hat sogar meine Handgelenke. Kinn, Ohren, Hals sind gleich, und unser Haar wäre es auch, wenn ich mich öfter in der Sonne aufgehalten hätte.
Sie hatte alles, nur nicht meine Narben.
Nichts davon ergibt einen Sinn, aber es ist mir egal, denn ich will es unbedingt. Jahrelang habe ich den Augenblick immer wieder durchgespielt, in dem Elias und ich meine Zwillingsschwester Abigail imWald derTausend Augen zurückgelassen haben. Ich sehe sie stolpern, sehe Blut an ihrem Bein hinabrinnen. Ich erinnere mich noch an mein Zögern, an das brennendeVerlangen, die Erkundungen fortzusetzen, gemischt mitWut darüber, dass meine Schwester weinte, und der Befürchtung, dass sie nicht mehr weitergehen wollen würde.
Ich erinnere mich, wie ich von ihr weggegangen bin. Wir
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