Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
trinkt den ganzen Tag Brandy, und April küsst wildfremde Männer im Debauchery Club. Ihre jüngste Eroberung reicht ihr ein hohes, schlankes Glas, dann bietet er auch mir eines an. Ich nehme es entgegen, trinke aber nicht daraus. Etwas an ihm erregt meine Aufmerksamkeit – nicht er selbst, sondern vielmehr die Art, wie April ihn küsst.
Ich habe noch nie jemanden geküsst. Ich habe geschworen, alles zu meiden, was Finn niemals tun oder erleben können wird. Normalerweise macht es mir nichts aus. Das liegt daran, dass ich nicht weiß, was ich versäume, sagt April, aber für mich ist Leidenschaft gleichbedeutend mit Chaos.
Aprils Lider sind violett. Seine sind bläulich wie ein Bluterguss. Sie haben beide die Augen fest zusammengekniffen, als hätte ihr Kuss, ihre Begegnung irgendeine Bedeutung.
Ich stelle mein Glas beiseite und ziehe weiter durch die Räume. Ruhelos.
Später sehe ich April wieder. Sie liegt ausgestreckt auf einem samtbezogenen Sessel. Offenbar hat sie irgendjemandem hier eine Schere in die Hand gedrückt, denn ihr Rocksaum ist noch kürzer als vorhin, als wir aufgebrochen sind. Damit hat sie die Schwelle zur Anstößigkeit endgültig überschritten.
Aber vielleicht ist es auch egal. Sie hat sich selbst zur Kunstfigur gemacht. Es ist völlig in Ordnung, dass wir praktisch nackt herumlaufen, weil wir in Wahrheit schon längst keine richtigen Menschen mehr sind.
Das Eis in meinem verwaisten Drink ist längst geschmolzen. Ich nehme das Glas von dem kleinen Beistelltisch. April beachtet mich nicht. Ich kippe den Inhalt hinunter, verlasse das Zimmer und gehe die Treppe hinauf ins nächste Stockwerk, wo ein paar Leute lautstark Karten spielen. Aber mir steht der Sinn nicht nach fröhlichen Menschen. Ich flüchte mich in ein ruhiges Zimmer. Als sich meine Augen an die Düsternis gewöhnt haben, mache ich zwei Gestalten aus, die im Kerzenlicht Schach spielen. Zwar sitzen sie nicht in einem feuchten Keller, trotzdem schnürt mir ihr Anblick die Luft ab.
»Lust auf ein Spiel?«, fragt jemand. Er hat blondes Haar, das im Kerzenschein schimmert.
»Nein. Nein. Strategie ist nicht meine Stärke …« In diesem Moment erkenne ich ihn.
V IER
K alte Luft streicht über mein Gesicht. Sie fühlt sich angenehmer und natürlicher an als die Luft, die ich sonst einatme. Ich liege in einem fremden Bett und schlottere.
Kälte. Das bedeutet, ich befinde mich im Freien. Aber weshalb sollte ein Bett im Freien stehen? Ich ziehe die Decken fester um mich. Die Gestalt neben mir bewegt sich. Ich erstarre. Jemand liegt neben mir. Ich liege, in Decken verheddert, in einem fremden Bett und kann die Augen nicht öffnen.
Ich berühre mein Gesicht. Meine Augen sind komplett verklebt. Das ist mir auch früher schon passiert, eine widerliche Mischung aus Make-up und Wimpernkleber. April hat mir ein Zeug gegeben, mit dem es sich entfernen lässt, aber zu Hause bin ich offenbar nicht, denn in den Penthouses der Akkadian Towers ist es niemals so eisig kalt.
Meine Maske ist verrutscht.
Und eine fremde Gestalt liegt neben mir, eng an mich gedrückt. Enger als irgendein Mensch, seit Finn und ich noch Kinder waren. Ein tiefes Gefühl der Trauer überkommt mich. Ich drehe mich weg und zucke zusammen, als mein Bettgenosse seinen Arm über mich legt. Abrupt reiße ich die Augen auf. Einen Moment lang tut es schrecklich weh, aber der Schmerz ist schnell verflogen.
Nichts in diesem Zimmer kommt mir bekannt vor. Es ist eine Mansarde mit niedrigen Decken und spitzen Winkeln. Ich rücke ein wenig ab und stelle entsetzt fest, wer neben mir liegt.
Im gedämpften Licht des frühen Nachmittags, das auf seine hohen Wangenknochen fällt, sieht er sogar noch besser aus als sonst. Ich starre auf seine geschlossenen Augen. Ich weiß, dass sie dunkel sind, aber welche Farbe haben sie genau? Dunkelblau? Dunkelbraun? Ich werde ihn wohl dazu bringen müssen, sie zu öffnen. Es ist merkwürdig, ihn außerhalb des Clubs zu sehen, ohne die roten Lichter auf dem Boden, ohne die Blutproben und die Untersuchungen.
Sein Haar ist zerzaust. Ich hebe die Hand kaum merklich und frage mich, ob ich den Mut aufbringe, sein Haar zur Seite zu streichen und nachzusehen, wie weit sich die Tattoos an seinem Hals hinaufwinden.
In diesem Augenblick durchbricht ein hohes Kichern meine Tagträumereien.
Die einzigen Möbelstücke im Raum sind das Bett, in dem wir dicht nebeneinanderliegen, und eine niedrige Couch, die eindeutig schon bessere Tage gesehen hat. Zwei
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