Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
schiebe ich meine Maske ein Stück zur Seite, so wie wir es machen, wenn die Gefahr besteht, dass irgendwo Keime lauern könnten, und beginne daran zu knabbern.
Henry hält liebevoll eine kleine Zinnfigur in den Händen.
»Ist das ein Spielzeug-Dampfboot?«, frage ich.
»Ja. Ein Luftschiff habe ich auch«, erwidert er stolz.
»Ein Freund von mir baut ihm die Spielsachen«, erklärt Will.
»Man kann sie aufziehen und richtig fahren lassen!«
So reizend sie sein mögen, machen mich die Kinder mit ihren forschenden Augen und ihren abrupten Bewegungen ein wenig nervös.
»Gehen die beiden zur Schule?«
Will stellt einen Teller voll Ei vor mir auf den Tisch.
»Ich hoffe, ich kann sie nächstes Jahr hinschicken.«
Wir essen ganz langsam. Ich reiße mein Brot in drei Stücke und reiche den Großteil davon den Kindern. Nach den Eiern fühle ich mich gleich viel besser, lebendiger. Die Sonne mogelt sich durch die Lücken zwischen den Decken, und mir fällt auf, dass Will völlig erschöpft aussieht. Am liebsten würde ich ihm das wirre Haar aus dem Gesicht streichen. Er ertappt mich dabei, wie ich ihn ansehe, und wieder spielt dieses angedeutete Lächeln um seine Lippen. Es würde mich nicht wundern, wenn gleich einer dieser unangemessenen Kosenamen käme, mit denen er mich im Club immer anspricht.
»Ist Araby deine Freundin?«, will Elise wissen.
Will verschluckt sich fast an seinem Brot. »Nein.« Die Antwort kommt so schnell, dass sie mich fast wie eine Ohrfeige trifft.
Als die Kleinen gerade nicht hinsehen, wendet er sich mir zu und hebt eine Braue. Er weiß genau, dass er mich gekränkt hat. Einen kurzen Moment lang ist er wieder der Typ aus dem Debauchery District und nicht der verblüffend häusliche große Bruder.
Seine Beschreibung der Mädchen, zu denen er sich früher hingezogen fühlte, ist im Grunde die exakte Wiedergabe meines Spiegelbilds. Allerdings weiß ich nicht, ob er auch heute noch auf die Sorte Mädchen steht … zu denen er mich offenbar zählt. Immerhin hat er gemeint, es sei albern gewesen, eine kindische Spinnerei, der er längst entwachsen sei. Wieder zuckt dieses Lächeln um seine Lippen. Etwas scheint ihn zu belustigen.
»Hier ist deine Tasche.« Er stellt meine Handtasche auf den Tisch und unterdrückt ein Gähnen. Die dunklen Ringe unter seinen Augen lassen ihn nur noch attraktiver aussehen.
»Du siehst müde aus.«
»Normalerweise schlafe ich auch länger. Du hast unseren kleinen Haushalt ziemlich durcheinandergewirbelt. Aber zum Glück habe ich ja noch den ganzen Nachmittag Zeit, mich auszuruhen.«
Den ganzen Nachmittag?
»Aber wie soll ich nach Hause kommen?« Die Angst lässt meinen Tonfall scharf klingen.
»Darüber zerbreche ich mir schon den Kopf, seit ich dich gerettet habe. Ich werde dich heute Abend auf dem Weg zur Arbeit nach Hause begleiten.«
»Aber ich kann nicht den ganzen Tag hierbleiben.« Bestimmt wird sich meine Mutter vor Sorge die Hände kneten, und Vater könnte ausnahmsweise sogar aus seinem Labor gekommen sein und nach mir suchen.
»Die Gegend hier ist nicht sicher genug, um allein unterwegs zu sein, schon gar nicht für jemanden wie dich.«
»Aber ich werde ja nicht allein sein. Du bist doch bei mir.«
»Aber ich kann Henry und Elise nicht allein lassen.«
»Dann nehmen wir sie eben mit. In der Nähe des Hauses, in dem ich wohne, gibt es einen Spielplatz. Natürlich bezahle ich auch die Kutsche.« Ich nehme meine Tasche.
»In der Unterstadt gibt es keine Mietkutschen.«
Er schiebt seinen Stuhl zurück. Die hölzernen Stuhlbeine scharren laut über den hölzernen Fußboden. Das Geräusch lässt uns beide zusammenzucken.
»Wer hat Lust auf ein Puzzle?«
Er nimmt einen Karton aus einem niedrigen Regal und kippt den Inhalt auf den Küchentisch. Die Kinder rangeln um die bunten Puzzleteilchen. Mit einem Mal hat das gedämpfte Licht jede Tröstlichkeit verloren und stattdessen etwas fast Bedrückendes.
»Du gehst nie mit ihnen nach draußen, stimmt’s?«
Will und ich starren einander über den Tisch hinweg an. »Nein.«
Diesmal weicht er meinem Blick nicht aus. Ich bin diejenige, die als Erste wegsieht.
»Willst du uns beim Puzzeln helfen?«
»Ich würde mich lieber noch mal hinlegen.«
Ich gehe wieder ins Bett. Es fühlt sich zwar seltsam an, aber sein Bett ist der einzige Ort in der winzigen Wohnung, wo ich allein sein kann. Ich ziehe mir die Decken bis zum Kinn hoch und wünsche mir, ich wäre unsichtbar. Die Tür seines Kleiderschranks
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