Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
Nachmittagssonne spiegelt sich auf den weißen Porzellanmasken der Seeleute, die auf einem nagelneuen, schimmernden Dampfschiff arbeiten.
»Das ist die Discovery «, sagt Vater.
Das letzte Mal, als ein Schiff im Hafen angelegt hat, war ich zehn Jahre alt. Im Gegensatz zu dem dampfbetriebenen Ungetüm vor uns hatte es einen hohen Masten und schwere Leinensegel. Es könnte von überall her gekommen sein.
Ich weiß noch, wie die Passagiere an Land strömten, als könnten sie es kaum erwarten, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Kleider, die sie trugen, waren einfach und knöchellang, mit hohen Krägen und langen Ärmeln. Damals war es ganz normal, hochgeschlossene Kleider zu tragen, selbst im Sommer.
Doch mit der Seuche ist alles anders geworden. Heute ist es von größter Wichtigkeit, so viel Haut zu zeigen wie nur möglich. Die Geistlichen haben diese neue Mode natürlich verteufelt. Wir seien alle dem Untergang geweiht, sagen sie, auch wenn wir uns alle fragen, was überhaupt noch übrig ist, das untergehen könnte.
Vermutlich waren die Menschen, die an diesem Tag von Bord gingen, von weit her gekommen, auf der Suche nach neuer Hoffnung. Stattdessen waren sie von einem Mob empfangen worden, der sie in Stücke gerissen hatte, noch bevor sie wussten, wie ihnen geschah. Und Finn und ich hatten das Geschehen voller Entsetzen verfolgt.
Mutter hatte uns schließlich gefunden. Wir waren weinend und völlig verstört durch die Seitenstraßen geirrt.
Die dramatischen Vorfälle hatten selbst Vater aus seinem Labor gelockt. Die Stadt sei völlig außer Rand und Band, sagte er, und wir sollten uns erst wieder hinauswagen, wenn die Seuche unter Kontrolle sei. Damals war es an der Tagesordnung, sich zu verstecken. Die Leute suchten Schutz in Kellern und auf Dachböden. Manche Familien flohen sogar aus der Stadt. Finn und ich hörten die Erwachsenen mit gedämpften Stimmen prophezeien, dass sie allesamt in den Wäldern sterben würden; und wenn nicht dort, dann in der Wildnis, die sich dahinter erstreckte.
»Ein gutes Zeichen«, flüstert Vater nun mit einer Geste auf die in der Sonne funkelnde Discovery. »Das erste gute Zeichen seit Langem.« Es tut gut, die Hoffnung in seiner Stimme zu hören. »Bald werden wir erfahren, was vom Rest der Welt noch übrig ist.«
Der Wind, der mir durchs Haar fährt, riecht nach Salz. Weiße Möwen fliegen heran und wieder davon.
Solange ich Vater nicht ansehe, kann ich so tun, als stünde Finn neben mir. Am liebsten würde ich in diesem meditativen Zustand versinken, der sich manchmal angenehmer anfühlt als das Vergessen. Aber in diesem Augenblick sieht Vater auf seine Taschenuhr und zieht mich mit sich. Plötzlich scheint er es eilig zu haben. Er stellt mir keine Fragen. Er interessiert sich schon lange nicht mehr dafür, was ich denke.
Wir gehen weiter, nähern uns dem Rand der Altstadt, die ein wenig höher gelegen ist als der Rest und wo es viele Türme und spitze Erker gibt, die aussehen wie aus dem Märchen. Sicherheitsleute säumen die Bürgersteige und sorgen dafür, dass Menschen ohne Masken nicht hereinkommen. Sie sollen außer Sichtweite bleiben, weg von uns und unserer Atemluft.
Wir nähern uns der Buchhandlung, der letzten in der Stadt. Vater pilgert mindestens einmal pro Woche hin, um zu sehen, welche Schätze die Leute in ihren Kellern und Dachböden aufgestöbert haben. Die Wachen kennen das bereits. Sie stellen sich im Halbkreis vor dem Eingang auf, lehnen sich gegen die Hauswand und warten.
Der Besitzer begrüßt meinen Vater mit Namen, während ich zwischen den mit schweren, dunklen Wälzern bestückten Regalen herumschlendere und den Blick über die Rücken schweifen lasse. Doch als ich um eine Ecke biege, sehe ich Vater zwischen zwei Männern stehen. Einer von ihnen hat ihn bei der Hand gepackt und lässt dann seine Finger eilig in seiner Tasche verschwinden. Vater hat ihm etwas gegeben, daran besteht kein Zweifel. Der jüngere der beiden Männer merkt, dass ich sie beobachtet habe, und starrt mich durch seine dicken Brillengläser unfreundlich an.
Unbehaglich weiche ich ein paar Schritte zurück.
Auf einen Schlag fühlt sich der Laden mit seinem feuchten, erdigen Geruch unheimlich an. Angewidert rümpfe ich die Nase. Neben dem Verkaufstresen stehen mehrere Kisten voller Bücher, allerdings sind einige davon vermodert. Offenbar wurden sie frisch aus einem feuchten Keller heraufgeholt. Ich greife nach einem schmalen Gedichtband, während
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