Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
der Ewigkeit. Das historische Foto vom Vater und seinem Nachfolger.« Er steckte den Kopf unter eine schwarze Plane und bückte sich hinter dem Apparat, der auf einem dreifüßigen Stativ stand. Seine Hand huschte unter dem schwarzen Stoff hervor, er schnippte mit den Fingern und wies uns darauf hin, dass wir auf seine Hand sehen mussten, und das war für mich das Zeichen und der Augenblick, so schnell wie möglich den Laden zu verlassen und durch die offenstehende Tür auf den Stradun hinauszurennen. Im Laufen zog ich mir das Matrosenhemd aus, blieb hängen und flog hin, deshalb konnten sie mich wieder schnappen und zum Sessel zurückschleifen. Und als sie das Gefühl hatten, mich gezähmt zu haben, und endlich das Foto gemacht werden konnte, rannte ich einfach wieder weg. Der Fotograf hob fuchtelnd die Arme in die Höhe und sagte: »Dieser wilde Schreihals scheut den Blitz wie der Teufel das Weihwasser!«
Jetzt erinnerte ich Vater an dieses unliebsame Ereignis, über das er nie wieder hatte sprechen wollen, und auch dieses Mal, nach all der vergangenen Zeit, hielt er sich ans Schweigen. Aus der Kiste nahm ich ein Bündel mit Fotografien in die Hand, sah sie durch, sah jede einzelne lange an, fragte Vater, wer oder was da zu sehen war. Die meisten Abgebildeten waren mir unbekannt, sogar meinen Großvater erkannte ich nicht. »Das ist mein Vater in einem Schaffellmantel, mit einem Tabakbeutel aus Ochsensackleder, da bewahrte er seine Groschen auf, seinen Zünder, Karten und fein geschnittenen Tabak aus Trebinje«, sagte Vater. Viele Fotografien kannte ich aber auch von früher, sie flogen in den Schubladen unseres Hauses herum, die Vater teilweise verschlossen hielt. Deshalb sah ich einiges auch zum ersten Mal, darunter war eine Fotografie von meiner armen Tante Vesela. Er hatte sie für den Fall aufbewahrt, dass jemand einmal die hässlichsten Menschen aller Zeiten in einer Ausstellung zeigen oder ein »Album menschlicher Abartigkeit« zusammenstellen würde. Ich behielt ein Foto, das mich bewegte und das ich zugleich bizarr fand. Auf ihm waren drei Freunde zu sehen, mein Vater, Ljubo Maras und ein Mann aus Imotski namens Basić. Sie stehen wie drei leblose Körper aufgereiht zwischen zwei Palmen und im Hintergrund sieht man ein Dampfschiff. Alle drei haben die Arme über der Brust gekreuzt und die Augen geschlossen; sie sehen aus, als habe man sie tot vom Schiff geborgen und als warteten sie nun auf Särge, damit man sie bald begraben konnte. Vater beobachtete mich, er schien angespannt zu sein, aber sein Blick war wach und freudig und seine Lippen zuckten immerfort, denn er wartete darauf, dass ich den Vermerk auf dem Rücken des Fotos kommentierte – Tote Betrunkene, Gruž, Juni 1937 . Ich lachte und Vater sagte: »Jetzt weißt du, wann ich gestorben bin.«
Er zeigte mir an diesem Tag auch ein kleines Notizbuch, war etwas geheimniskrämerisch dabei, als hätte es etwas Besonderes damit auf sich und als vertraue er mir eine Reihe unglücklicher und tragischer Familienvorkommnisse an. Aber in Wirklichkeit handelte es sich um einfache Notizen, er hatte Mutters Besuche festgehalten und sie jeweils mit einem Datum versehen, hatte Titel von Büchern notiert, die der Junge ihm vorgelesen hatte, ein paar rätselhafte Namen standen darin, Ziffern, Medikamente, die man ihm verordnet hatte. Alles in allem war das Notizheft eher unbedeutend, verdiente nicht die Beachtung, die er ihm gab. Lässig blätterte ich darin und stieß auf einen Satz meines Vater, den er in Schönschrift niedergeschrieben hatte, und dieser lautete: »Mach die Kerze nicht an, es ist spät.« Ich wollte ihn nicht fragen, ob das Notizbuch eine besondere Bedeutung hatte und ob sich in dem Satz, den ich entdeckt hatte, etwas versteckte, von dem ich nichts wusste und das meiner Entdeckung harrte, aber nur von Eingeweihten dechiffriert werden konnte. Ich kannte ihn. Wenn ich Vater gefragt hätte, wäre mir nur sein Abwinken als Antwort zuteilgeworden, und ich hätte mir anhören müssen, dass diese Notizen wie sein ganzes Leben vollkommen banaler Natur waren, dieses Heft aber alles sei, was von ihm übrig bleiben würde, und somit auch alles war, was er zu vererben hatte. Still legte ich das Notizheft wieder in die Kiste zurück, er verstand sofort, dass ich ihn mit meinem Schweigen unterwandert hatte, und wir sprachen eine Weile nicht, dann bat er schließlich den Jungen, mir etwas vorzulesen. Es war offenbar eine wichtige Botschaft, etwas, das er auf
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