Wolfsfieber
1. Wie aus dem Nichts
Der Regen war mittlerweile so dick, dass ich nur noch sche-
menhaft die Straße erkennen konnte. Ich verringerte die
Geschwindigkeit meines Wagens, um die Wahrscheinlich-
keit, im Straßengraben zu landen, zu verringern. Wie merk-
würdig, dachte ich. Die kurze Strecke zwischen Rohnitz und
St. Hodas kannte ich seit über zwanzig Jahren auswendig.
Knapp drei Kilometer vertrauter Weg bis zur Dorfgrenze.
Doch in diesem schweren Regen, bei Dunkelheit und tief
liegendem Nebel erkannte ich so gut wie nichts wieder. Jede
Kurve schien überraschend auf mich zuzukommen und ich
versuchte, nur noch zu reagieren und alles, was ich konnte,
im Blickfeld zu behalten, was nicht gerade leicht war.
Und meine müden Augen waren dabei bestimmt auch
keine Hilfe. Wieso musste diese Pressekonferenz zum The-
ma „Wildunfälle“ ausgerechnet abends stattfinden und dann
auch noch bei diesem Wetter? Sollte man es nicht vermei-
den, genau bei diesen Bedingungen mit dem Auto zu fah-
ren – und dann auch noch zur Wildwechselzeit?
Also manchmal hasste ich meinen Job als Lokalreporte-
rin wirklich, bei aller Liebe zum Lokaljournalismus. Es war
einer dieser Tage gewesen, an denen man nicht mal zum
Essen kommt, weil ständig Arbeit ansteht oder etwas zu er-
ledigen ist. Ich hatte seit meinem späten Frühstück nichts
gegessen und war den ganzen Tag auf dieser Ferienmesse
gewesen, hatte fotografiert und mehr Leute über ihren
Messebesuch ausgefragt, als ich zählen konnte. Als ich um
sechs nach Hause kam, war ich schon total erledigt. Doch
ich war noch nicht mal richtig zur Tür hereingekommen, da
klingelte schon mein Handy. Es war mein Redakteur. „Eine
Pressekonferenz steht noch an“, hatte er gesagt. „Gleich bei
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dir um die Ecke“, hatte er mir versichert. „Wurden zu spät
darüber informiert. Beginn ist um acht“, so seine Worte.
Ich wusste sofort, dass niemand außer mir so schnell dort
sein konnte, also sagte ich zu. Ich strich das geplante Es-
sen, lud rasch die Fotos von der Kamera auf den Rechner
und tauschte die Batterien meines Blitzgerätes aus. Ich tat
noch einen kurzen Blick in den Spiegel, der mir, wie meis-
tens, die Wahrheit zeigte: eine vierundzwanzigjährige Frau
mit langen, blonden Haaren, ovalem Gesicht und dunklen
Schatten unter den blauen Augen. Es blieb mir gerade noch
genug Zeit, um meine vom Wind zerzausten Haare zu bän-
digen und die Schuhe zu wechseln. Und schon war ich wie-
der aus dem Haus.
Die Pressekonferenz verlief unspektakulär und es fiel
mir schwer, allzu großes Interesse für unsere anwesenden
Lokalgrößen aufzubringen. Es ging um einen Anstieg der
Wildunfälle auf den Landstraßen unserer Region. Eigentlich
ein Dauerthema, doch es war Mitte September und Haupt-
wechselzeit der Rehe. Die Unfälle waren nicht schwer, aber
häuften sich. Uns teilnehmenden Journalisten gab man eine
Infomappe mit den neuen Statistiken und sowohl die zustän-
dige Landesrätin wie der Polizeivertreter erläuterten die Ver-
haltensweisen bei dieser Art von Unfällen.
Ich hörte nur halb zu und versuchte, mir den einen oder
anderen Kommentar zu notieren. Ich war einfach viel zu
müde und erschöpft. Nachdem der offizielle Teil endlich er-
ledigt war, stand man bei Kaffee noch zusammen und mach-
te Small Talk über rücksichtslose Autofahrer und unzurei-
chende Wildschutzmaßnahmen. Ich versuchte, mich mit
angeblichem Redaktionsschluss aus der Affäre zu ziehen,
und schnappte mir meinen grünen Parka.
Mit ein paar schnellen Schritten sprintete ich zum Auto,
einem dunkelgrünen Sportcoupé, bugsierte Kamera und No-
tizen auf den Beifahrersitz und stieg ein. Als ich vom Park-
platz wegfuhr, begann es auch gleich zu regnen. Ein plötz-
licher, sintflutartiger Wolkenbruch ergoss sich über ganz
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Rohnitz. Und bis ich die Dorfgrenze erreicht hatte, gesellten
sich auch noch Donner, Nebel und Dunkelheit dazu.
Da war ich nun. Auf einer gefährlichen Straßenstrecke
mit nachgewiesenen Wildunfällen und nasser Fahrbahn. Ein
mulmiges Gefühl begleitete mich auf den letzten Kilome-
tern und ich konnte es kaum erwarten, endlich in meinem
sicheren, trockenen Haus zu sein. Ich sagte mir selbst, dass
meine Angst lächerlich wäre. Schließlich war ich hier schon
tausendmal vorbeigefahren, ohne auch nur einen Kratzer
abzubekommen. Aber irgendwie hatte ich so ein komisches
Gefühl. Ich wusste nur nicht, ob die Unfallstatistik von
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