Die Stadt - Roman
gebaut«, sagte Louise. »Vorher hat sie nicht existiert. Was geschah mit den Seelen, als es die
Maschine noch nicht gab? Und warum wurde die Maschine gebaut?«
»Hast du gehört, Benjamin? Das sind intelligente Fragen. Kompliment an die junge Dame. Nun, soweit ich weiß, wurde die Maschine gebaut, als sich der Mensch aus den Primaten entwickelte. Man könnte sagen: Sie entstand, um die ersten menschlichen Seelen zu empfangen.«
»Aber warum?«, warf Benjamin ein. »Ich meine, das alles muss doch einen Grund haben. Niemand – nicht einmal Schlangen – baut einfach so eine Maschine, die Seelen sammelt. Wozu werden die Seelen gesammelt? Was soll mit ihnen geschehen?«
»Muss etwas mit ihnen geschehen?«, erwiderte Laurentius überraschend sanft. »Können sie nicht einfach in der Stadt, beziehungsweise in den Städten, leben, in der Nähe eines Supermarkts, dessen Regale sich nie leeren?«
»Schlangen …«, sagte Benjamin nachdenklich.
»Ein weiterer interessanter Punkt, nicht wahr?« Das Grinsen kehrte in Laurentius’ Gesicht zurück. »Irgendwie scheinen die Menschen, als sie sich Gedanken über das Jenseits und so machten, das eine oder andere aufgeschnappt zu haben.«
»Die Schlange im Garten Eden.« Benjamin betrachtete erneut das Geländer, und als er den Blick auf einige schmiedeeisernen Komponenten richtete, schienen sie sich ein weiteres Mal in Schlangen zu verwandeln.
Laurentius griff in die Manteltasche und holte einen Apfel hervor. Er warf ihn hoch und fing ihn dann mit der anderen Hand wieder auf. »Der Apfel und die Schlange. Beides ist miteinander verbunden, und das Bindeglied heißt Wahrheit.«
»Wahrheit. Die Augen öffnen. Desillusionierung.« Louise sah den Alten groß an. »Ist es das? Haben die … Schlangenwesen deshalb die Maschine gebaut? Um uns, im Tod, die Augen zu öffnen? Um unseren Seelen die Wahrheit zu zeigen?«
»Du bist wirklich ein kluges Köpfchen, Louise. Respekt. Nimm dir ein Beispiel an ihr, Benjamin. Schalt endlich das Gehirn ein. Das ganze Gehirn, meine ich. Nicht den kleinen Teil, mit dem du derzeit denkst, mein Junge. Der Rest ist immer noch damit beschäftigt, sich vor deiner Wahrheit zu verschanzen. Vielleicht hast du Recht, Louise. Vielleicht wollen die Erbauer der Maschine die Seelen gestorbener Menschen gewissermaßen einfangen und in der Stadt und in den Städten unterbringen, um sie auf die ›Wahrheit‹ vorzubereiten, woraus auch immer die bestehen mag.« Laurentius hob und senkte die Schultern. »Oder es mag darauf hinauslaufen, dass Velazquez mit seiner Theorie von den Aliens richtigliegt. Möglicherweise geht es den Erbauern, besagten Aliens, um ein Experiment, dessen Sinn und Zweck sich unserem – auch meinem – Verständnis entzieht. Oder sie handeln ihrerseits im Auftrag, vielleicht im Auftrag einer allmächtigen Entität, die man Gott nennen könnte. In dem Fall hat letztendlich vielleicht Hannibal Recht mit seiner Theorie vom Limbus und der ausstehenden Entscheidung zwischen Gut und Böse, Himmel und Hölle.«
»Du weißt es nicht, Laurentius?«
»Ich bin der Aufseher der Maschine, seit zehntausend Jahren«, erwiderte der Alte, und diesmal hörte Benjamin eine gewisse Müdigkeit in seiner Stimme. »Ich sorge dafür, dass sie richtig funktioniert. Das ist meine Aufgabe. Viel mehr
weiß ich nicht. Vielleicht erfahre ich die Gründe bei meiner Abberufung.« Benjamin musterte den Alten und fragte sich, ob er die Wahrheit sagte. Seine Worte klangen aufrichtig, und warum sollte Laurentius lügen und ihnen etwas vormachen?
Der Greis im Lodenmantel erwiderte seinen Blick. »Bist du endlich so weit, Benjamin? Nein, noch immer nicht? Na schön. Dann zeige ich euch zuerst, wo die Stadt erschaffen wird. Kommt.«
63
Laurentius drehte sich um und kehrte über den Steg zu der Tür zurück, die sie aus dem Flur in den Saal mit den Pendeln der Kohärenz gebracht hatte. Aber als er die Tür öffnete, erstreckte sich dahinter nicht etwa der Korridor mit den Bildern seiner Vorgänger, sondern ein Raum, in dem Hunderte, Tausende von Hebeln aus den Wänden, der Decke und auch dem Boden ragten, mit goldenen, silbernen und kupferroten Kugeln am Ende. Stille herrschte an diesem Ort, und das Geräusch ihrer Schritte klang unnatürlich laut in Benjamins Ohren.
Einige Lichter schwebten unter der gewölbten Decke, klein wie Punkte, und ihr Schein gab den vielen Hebeln lange, verwirrende Schatten.
»Nichts anfassen«, sagte Laurentius. »Nicht an den Hebeln
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