Die Stadt - Roman
Wird es nicht langsam Zeit, dass du dich deiner Wahrheit stellst? Oder brauchst du etwas, das dein Gedächtnis auffrischt?«
Laurentius berührte mehrere Hebel, und an einer Stelle veränderte sich die Anordnung von Zeichen und Zahlen in der Luft. Benjamin fühlte plötzlich etwas in der Hosentasche,
und als er danach griff, stellte er fest, dass es ein Lebensbuch war. Er erkannte die Flecken auf dem schmalen Rücken wieder, und darunter stand der Name, den er in der Bibliothek auf dem Buchrücken gelesen hatte: J. M. Townsend.
Jetzt tanzten die Buchstaben, ordneten sich neu an und zeigten ihm seinen Namen: Benjamin Harthman.
»Die Bibliothek hat dir das richtige Buch gegeben«, sagte Laurentius. »Du wolltest es nur nicht wahrhaben.«
Mit zitternden Fingern öffnete Benjamin das Buch und las.
Buchstaben und Zahlen wirbelten wie Blätter im Wind, als Benjamin ins Buch starrte und die Worte seines Lebens las. Es waren keine angenehmen Worte, doch er konnte ihre Wahrheit nicht leugnen.
»Ben?«, fragte Louise nach einer Weile. »Hier, du brauchst einen Schluck. Oder auch zwei.« Sie reichte ihm die Flasche mit der Medizin.
Benjamin nahm sie entgegen und trank nicht nur einen Schluck oder zwei, sondern mehr. Als er die Flasche schließlich zurückgab, breitete sich das Brennen in der Kehle aus, das dann den ganzen Körper erwärmte.
»Nun?«, fragte Laurentius. Diesmal lächelte er nicht. In seinem fast bis zum Boden reichenden Mantel stand er da und wartete.
»Ich bin ein Mörder«, sagte Benjamin, klappte das Buch zu und steckte es in die Hosentasche. Er brauchte nicht mehr darin zu lesen. Die Erinnerungen waren da, klar und deutlich. Die Barriere, die sie bisher von ihm ferngehalten hatte, existierte nicht mehr. »Das hat mich ins Gefängnis gebracht, und später ins Institut. Ich bin ein wahnsinniger Serienkiller.«
Er hörte die Worte und wusste, was sie bedeuteten, aber der Schock blieb aus. Wo er ihn hätte spüren sollen, in seiner Mitte, im Zentrum seines Selbst, gab es eine Taubheit, die ihn vor Schmerz schützte. Vielleicht lag es an der Medizin.
»Das bist du gewesen , ja«, sagte Laurentius.
Er sah die Gesichter der Menschen, die er erschossen, erwürgt und auf andere Weise umgebracht hatte. Er sah die Angst in ihren Augen, das Entsetzen, auch den Hass, und die Taubheit in seiner Mitte bewahrte ihn davor, dass diese emotionalen Klingen durchs Fleisch seiner Seele schnitten. Nein, es lag nicht nur an der Medizin, begriff er. Es gab noch etwas anderes, das ihn schützte.
»Erinnerst du dich an deine Mutter, Benjamin?«, hörte er die Stimme des Alten. »Du bist damals elf oder zwölf gewesen. Erinnerst du dich an den Swimmingpool, der in deinen späteren wirren Vorstellungen zum Meer wurde?«
»Ja«, sagte Benjamin und schwankte, während die Buchstaben und Zahlen der Schöpfungsmaschine um ihn tanzten. Er sah ihn vor sich, den Pool in der Nacht, von Lampen erhellt, blau wie ein kleines Stück des Meeres. So hatte er sich ihn immer vorgestellt, als einen Teil des Ozeans, im Garten hinterm Haus. Die Schreie hatten ihn damals geweckt. Er war nach draußen gelaufen und hatte gesehen, wie sein wutentbrannter, betrunkener Vater seine Mutter im Pool ertränkte. In diesem Moment sah er sich selbst, wie er ins Wasser sprang und sie zu retten versuchte, obwohl jede Hilfe zu spät kam, und plötzlich war er mit ihr allein gewesen, in einem Pool, der sich in ein bis zum Horizont reichendes Meer verwandelte.
Louise musterte ihn aufmerksam, und Benjamin befürchtete
Abscheu in ihrem Gesicht. Stattdessen sah er Sorge, die ihm galt. Er zitterte, und sie legte ihm die Hand auf den Arm.
»Du bist damals lange in psychotherapeutischer Behandlung gewesen«, sagte Laurentius sanft. »Einer der Psychologen brachte dir immer Bücher mit, und irgendwann hast du begonnen, dich in diese Geschichten zu flüchten. Du hast Bücher geradezu verschlungen und Jahre später mit einem Literaturstudium begonnen. Bei der Party zum Anlass deines zweiundzwanzigsten Geburtstags hast du gesehen, wie ein Paar am Pool stritt. Der Streit eskalierte, der junge Mann geriet außer sich. Er stieß seine Freundin ins Wasser, und sie fiel so unglücklich, dass sie mit dem Kopf gegen den Beckenrand prallte. Du hast das Blut im Wasser gesehen …«
»All das Blut … «, sagte Benjamin leise, den Blick in die Vergangenheit gerichtet. Eine Formel der Jenseitsmaschine schwebte dicht an seinem Gesicht vorbei, doch er sah sie nicht.
»Der
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